KGS Hamburg trifft... Jan Silberstorff

Jan, schon als Kind hast du dich für östliche Kampfkünste interessiert. Was hat dich daran so fasziniert?
Ich habe mit sechs Jahren während einer Kinderreise morgens um sechs Uhr Taekwondo gelernt. Der Trainer hatte so einen ganz bestimmten tiefen geistigen Ausdruck und konnte sich toll bewegen. Das hat mich sehr fasziniert. Also das Taekwondo, nicht die frühmorgendliche Uhrzeit …
Wann kamst du mit Taijiquan in Berührung? Gab es für dich ein Vorbild?
Ich suchte eigentlich etwas anderes und bin quasi in „falsche Hände“ geraten, welche sich dann aber als genau die richtigen erwiesen haben. Es ging damals vornehmlich um Selbstverteidigung und mein erstes Vorbild waren bereits die Videos von Großmeister Chen Xiaowang. Allerdings ging ich davon aus, ihn selbst niemals zu Gesicht zu bekommen.
Mit 26 Jahren wurdest du der erste westliche Meisterschüler des Traditionshalters des klassischen Taijiquan, Großmeister Chen Xiaowang, und somit auch erster ausländischer Linienhalter in der 20. Generation. Du hast einige Jahre in China gelebt und sprichst fließend Chinesisch. Was bedeutet so eine Ausbildung für einen jungen Menschen, der aus einer westlichen Kultur stammt?
Die wirkliche Bedeutung erschließt sich mir eigentlich so richtig erst in den vergangenen Jahren. Damals als junger Mensch hatte ich noch nicht die Zeit, mir über so etwas Gedanken zu machen. Ich blickte immer nur in die Zukunft, was ich einmal werden wollte … Heute wird mir jedoch immer bewusster, wie umfangreich und tiefgreifend das letztendlich alles werden sollte. Allerdings – und das war für mich als junger Mensch sehr wichtig, hat mich diese Ausbildung auf einen besseren Lebensweg gebracht. Die Anerkennung zum Linienhalter und die Intensität der Ausbildung haben mich zudem nicht nur Tiefe, sondern auch Verantwortung und die Verpflichtung zur Weitergabe gelehrt.
Gab es ein Erlebnis in dieser Zeit, welches dich besonders berührt oder geprägt hat?
Naja, da gab es mein erstes Treffen mit Großmeister Chen Xiaowang, meine Aufnahme als direkter Schüler bei ihm, die Turniersiege, mein erstes Buch …, aber eigentlich waren es drei Erlebnisse, die für mich von größter Wichtigkeit waren: Noch als ich in Xian lebte und trainierte, sagte ein durchreisender Ausländer, den ich morgens im Park traf: „Jan, was für ein großartiges Leben du hast!“ Da wurde mir bewusst, wie recht er hatte, und seit jenem Tag lebe ich aus voller Dankbarkeit für alles, was mir in diesem Leben widerfährt. Dann wurde ich als erster Westler von der Regierung Singapurs zu deren allzweijährigen Kampfkunst-Meistervorführung eingeladen. Diese Vorführung wurde in Asien im Fernsehen übertragen und am nächsten Tag kannte mich die ganze Stadt. Aber das Besondere war ein türkischer Familienvater, welcher am Flughafen ein Autogramm von mir haben wollte. Es war mir als Nicht-Chinese peinlich, so etwas zu tun. Doch er widersprach und sagte, er wolle es für seinen kleinen Sohn haben. Dieser träume davon, einmal ein großer Kungfu-Meister zu werden, doch glaube er, als Westler dies niemals werden zu können. Und ich würde für ihn genau dies verkörpern – dass es für uns im Westen ebenfalls möglich ist, diese Kunst zu meistern. Mein Autogramm wäre die entscheidende Motivation für seinen Sohn. Das machte mich sehr betroffen und sensibel dafür, was es heißt und was für eine Verantwortung darin liegt, Vorbildfunktion zu haben. Das dritte ist, dass ich meinen Eltern, denen ich in meiner Jugend viel Leid bereitet habe, durch meinen Erfolg dieses Leid wieder in Freude verwandeln konnte.
Was für eine Bedeutung hat Taijiquan in deinem Leben?
Es ist das Taiji, also das hinter allem liegende Prinzip, quasi das Sein an sich, was eine fundamentale Bedeutung in meinem Leben hat. Alles richtet sich danach aus. Taiji ist das Leben an sich, es ist alles. Der gesamte Kosmos, alles in mir – kurz und wortwörtlich gesagt: Gott und die Welt! Taijiquan ist nur das Medium, Taiji zu erfahren.
Es heißt, dass das regelmäßige Praktizieren von Taijiquan förderlich für die körperliche und psychische Gesundheit sei und zur Entspannung beitragen würde. Was genau verändert sich durch das Praktizieren von Taijiquan und wie wirkt es sich auf unser mentales System aus?
Es ist eine ganzheitliche, physisch anspruchsvolle Entspannung. Die eigenen Energien lösen sich und fließen wieder frei durch den Körper. Der Geist, welcher durch die Sinne stets nach außen wirkt, kommt wieder nach Hause zurück, in seine eigenen vier Wände, in seinen Körper. Das ganze Selbst, jede Pore und jede Zelle wird von der eigenen Geist-Energie durchdrungen. Die Grenzen zwischen dem Selbst und dem Alles lösen sich auf. Einheitserfahrung entsteht. Innerer Frieden entsteht. Weisheit entsteht. Einsicht entsteht. Alles beginnt sich auf liebevolle Weise zu verändern … äußerlich wird der Körper robust und kräftig, dabei aber gleichzeitig geschmeidig und sanft.
Du hast eine besondere Form der Sitzmeditation entwickelt. Kannst du uns ein wenig darüber erzählen?
Die Sitzmeditation bildet eine Synthese von Techniken, die ich am Ursprungsort des Taijiquan, Chenjiagou, gelernt habe, mit meinen Erfahrungen dieser Techniken aus inzwischen über 20 Jahren. Alles ist zu einer Drei-Stufen-Meditation des Taijiquan zusammengeflossen. Diese drei Stufen umfassen eine konkrete Ausbildung des Dantian, unseres energetischen Zentrums, eine vollständige Energetisierung des Körpers, das Öffnen seiner Energiezentren, das Erlernen von tiefer Konzentration, geistige Aussteuerung des gesamten Körpers bis tief in die subtilen Bereiche hinein sowie das Erlangen geistiger Vertiefungsstufen bis hin zur authentischen Leerheit, aus der wiederum die Einheit mit dem Dao erfahren wird.
In welchen Momenten empfindest du innere Stille und Frieden?
Eigentlich immer … fast immer, aber um die Frage auch äußerlich greifbarer zu beantworten: Ich verbringe über die Hälfte des Jahres in stillem Retreat. Fünf Monate davon auf einer Insel in Brasilien. In dieser Zeit spreche ich nicht und widme den ganzen Tag meiner Taiji- beziehungsweise Meditationspraxis. Im übrigen Jahr verbringe ich außerhalb meiner Unterrichtstätigkeit, welche ich auf 80 bis 90 Tage im Jahr beschränke, zumindest die Vormittage ebenfalls im Schweigen. Außerhalb dieser Praxis versuche ich mit großer Freude diesen Frieden nicht nur aufrechtzuhalten, sondern mit allen, denen ich begegne, zu teilen. Das ist wie im Taijiquan die Soloformen und die Partnerübungen. Was man für sich alleine erwirbt, teilt man mit anderen. Und hier nimmt man auch neue Anregungen auf, die man dann in seine Praxis integriert. Es ist ein immerwährender Austausch – mit sich selbst, mit der Natur, mit allen Wesen und grundlegend mit Gott beziehungsweise dem Dao.
Jan, derzeit bist du in China, lebst jedoch die meiste Zeit in Brasilien. Wo fühlst du dich zu Hause?
Interessanterweise in Brasilien.
Was machst du, wenn du kein Taijiquan unterrichtest oder selbst praktizierst?
Ich schreibe Bücher und verbringe viel Zeit mit meiner lieben Frau.
Du hast weltweit mehrere Taiji-Verbände und Hilfsprojekte gegründet. Welche Projekte unterstützt die World Chen Xiaowang Taijiquan Association Germany?
Der deutsche Verband ist quasi das Mutterschiff. Er ist meine Heimat und mein Ausgangspunkt aller Aktivitäten. Auch führe ich alle neuen Projekte hier zuerst durch. Die WCTAG bietet inzwischen flächendeckend im ganzen Land Kurse und Seminare von sehr vielen gut ausgebildeten Lehrkräften an. Auch findet der größte Teil meines weltweiten Unterrichts nach wie vor in Deutschland statt. Unsere Hilfsorganisation WCTAG hilft e. V. betreut inzwischen über 400 notleidende Kinder in Brasilien, Sri Lanka und Deutschland. Sie ist eine deutsche Schöpfung, hat hier auch ihren größten Sponsor, auch wenn sie natürlich ebenfalls von den übrigen Verbänden der anderen Länder unterstützt wird.
Welche drei Dinge dürfen dir auf deiner Insel nicht fehlen?
Gesundheit, Frieden und meine zwei Hunde.
Was kann ich tun, wenn mein Geist beim Meditieren immer dazwischenplappert?
Nicht zuhören.
Wenn wir Meditation und Achtsamkeit als Schulfach einführen würden, wie sähe unsere Gesellschaft in 50 Jahren aus?
Wenn es dazu noch sinnvoll praktizierte Hausaufgaben gibt und wir es schaffen, dass dies ein weltweites Phänomen wird, könnte die Gesellschaft dieser Erde erfahren, dass Gott uns alle auf all unseren verschiedenen Wegen gleichermaßen liebt. Denn all diese Wege kommen aus der einen Quelle. Wir alle kommen aus derselben Quelle und ein jeder, der zu diesem Ursprung vorgedrungen ist, wird keine Gewalt mehr gegen seinen Nächsten, wie anders er auch sein mag, ausüben wollen und können.
Vielen Dank für deine Antworten.
KGS Hamburg 09/16