"Das bringt mich runter"

Taijiquan für Menschen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung

Zusammenfassung

Bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung kann das Leben in vielerlei Hinsicht eine große Herausforderung darstellen. Während manche Betroffenen die erlebte Traumatisierung relativ zügig überwinden, entwickelt sich bei anderen ein komplexes chronisches Störungsbild, das für sie selbst und ihre Angehörigen eine langwierige erhebliche Belastung darstellt. Taijiquan kann dazu beitragen, den Organismus wieder mehr ins Gleichgewicht zu bringen, und erleichtert es, typische Symptome wie Übererregung, Flashbacks oder Schlafstörungen selbst zu regulieren. Die spezifi sche Art der körperlichen Bewegung vermittelt ein Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit und kann zu einer hilfreichen Begleitung werden.

Symptome der PTBS

Im Zuge der zahlreichen militärischen Auslandseinsätze und ihrer Folgen für die daran Beteiligten ist in den letzten Jahrzehnten das Krankheitsbild der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) allgemein bekannt geworden. Dabei ist dieser Symptomkomplex nicht auf Traumatisierungen infolge von Kriegserlebnissen beschränkt, sondern kann laut Definition der WHO auch durch andere sehr bedrohliche Ereignisse wie sexuelle Gewalt oder Naturkatastrophen verursacht werden.

Hier soll es jedoch in erster Linie um Betroffene aus dem militärischen Umfeld gehen, da auch die bisherigen Forschungen zum Thema Taijiquan bei PTBS im Wesentlichen auf diesen Personenkreis beschränkt sind. Bei Soldat*innen, die unter Einsatzfolgen leiden, entwickelt sich häufig eine sogenannte Komplexe PTBS, die mit massiven Schwierigkeiten im sozialen Umgang, im Selbstbild und in der Affektregulierung einhergehen kann. Zusätzlich können weitere psychische Erkrankungen wie Depressionen, Dissoziative Störungen, Bindungsstörungen, Suchterkrankungen oder Selbstverletzendes Verhalten auftreten. Bei einem hohen Prozentsatz treten außerdem diverse körperliche Beschwerden auf. Dazu gehören chronische Schmerzen und Symptome wie Herzrasen, Zittern, Angstschweiß, Atemnot, Übelkeit oder Ohnmachtsanfälle, die aufgrund der ständigen Alarmstimmung schon durch eigentlich harmlose Trigger ausgelöst werden können. Zu der erlebten körperlichen Bedrohung kommt bei Soldat*innen häufig eine sogenannte Moral Injury hinzu, eine massive Erschütterung des eigenen Weltbildes, des Werteempfindens und der persönlichen Sinnzusammenhänge.

Eine PTBS kann sowohl kurzfristig als auch noch nach Jahren nach dem traumatischen Ereignis auftreten. Eine psychotherapeutische Behandlung ist umso erfolgversprechender, je schneller sie nach der Traumatisierung einsetzt. Bei Soldat*innen und ehemaligen Soldat*innen besteht häufig die Schwierigkeit, dass es sehr lange dauern kann, bis ihre Beschwerden als einsatzbedingt anerkannt werden und eine gezielte Behandlung beginnt. Diese kann sich dann über Jahre hinziehen, so dass oftmals von einer andauernden sehr belastenden Situation für die Betroffenen selbst sowie ihr soziales Umfeld auszugehen ist.

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Taijiquan und PTBS

Bei einem derart komplexen Beschwerdebild ist es naheliegend, nach Möglichkeiten zu suchen, die Selbstregulationsfähigkeiten des Organismus zu stärken.

Die westliche Diagnose PTBS kann beschrieben werden als innere Störungen im Gleichgewicht und Fluss der Energie. Man kann PTBS-Symptome ansehen als ein Einfrieren in Reaktion auf das Trauma, wodurch der Energiefluss in der Person blockiert wird. Um Heilung herbeizuführen, müssen diese inneren Bestände an eingefrorener Energie gelöst und der natürliche Fluss der Energie gestärkt werden. Diese eingefrorene Energie aufzulösen kann eine innere Balance und einen erneuerten Energiefluss wiederherstellen, so dass die betroffene Person letztlich in einen Zustand von Wohlbefinden zurückkehrt.
(Michael A. Grodin, Linda Piwowarczyk, Derek Fulker, Alexander R. Bazazi, Robert B. Saper: Treating Survivors of Torture and Refugee Trauma: A Preliminary Case Series Using Qigong and T'ai Chi, in Journal of Alternative Complementary Medicine Sep. 2008; 14(7), S. 801-806, doi: 10.1089/acm.2007.0736)

Dabei geht es auch um einen beruhigenden Ausgleich zu der durch die anhaltende Alarmbereitschaft verursachten hohen Anspannung. In dieser Hinsicht haben einige Veteranen bereits gute Erfahrungen mit Taijiquan gemacht. So beschreibt beispielsweise der Vietnamkriegsveteran und Polizeibeamte im Ruhestand Tom McNicholas in einem YouTube-Video seine Erfahrung mit Taijiquan:

Von der ersten Bewegung an war es, als hätte es hörbar ‚klick‘ gemacht in meinem Inneren. Es war seit Monaten das erste Mal, dass ich ein Gefühl von Kontrolle hatte, nur von dieser einfachen Bewegung. Von dem Moment an hatte es mich gepackt. … Es hat mir ein Werkzeug gegeben, mit dem ich es [die PTBS] managen kann. … Nachts, wenn ich nicht einschlafen kann, vor allem wenn ich einen wirklich schlechten Tag hatte und all diese Dinge wieder auftauchen, kann ich die erste Bewegung visualisieren und zehn Minuten später bin ich eingeschlafen. … Wenn sich mir die Nackenhaare aufstellen und ich kurz vorm Explodieren bin, – anstatt zu brüllen oder zu schreien oder auf jemanden einzuschlagen – mache ich in meiner Vorstellung die erste Bewegung [»Das Qi wecken«]. Vielleicht muss ich das ein paarmal machen, aber ich verliere nicht die Kontrolle.
(https://youtu.be/mYgowthF8Ug)

Tom McNicholas unterrichtet inzwischen selbst Taijiquan.

Der britische Golfkriegsveteran Shaun Foulder schreibt:

Jeder, der ein Trauma erlebt hat, findet sich oft in einem Teufelskreis wieder, in dem das Gefühl, gestresst zu sein, nicht nur die Psyche beeinflusst, sondern auch körperliche Beschwerden verursacht. In meinem Fall wurden Gelenkschmerzen, chronische Müdigkeit, Asthma, Kopfschmerzen usw. durch aufkommenden Stress ausgelöst. Ich habe meine NHS[National Health Service]-Behandlung nie ersetzt, sondern stattdessen Tai Chi parallel dazu eingesetzt. Ich fand dies eine sehr nützliche Strategie, um voranzukommen, denn ich musste aus diesem Kreislauf aussteigen und die Kette durchbrechen. …
(www.ptsduk.org/how-tai-chi-can-help-ease-ptsd-symptoms/)

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Körper, Geist und Seele regulieren

Im medizinischen Kontext gilt Taijiquan als chinesische »Körper-Geist-Übung« (mind-body-exercise), die Kampfkunst und meditative Bewegung vereint und ein physisches und mentales Gleichgewicht fördert. Die Kombination von Konzentration, körperlicher Balance, Beweglichkeit, muskulärer Entspannung und natürlicher Atmung kann sowohl in der Prävention als auch der Rehabilitation bei zahlreichen physiologischen als auch psychischen Störungen positive Wirkungen erzielen. Dabei sind die Wirkungen bei körperlichen Erkrankungen, insbesondere des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, Typ 2 Diabetes, Osteoarthritis, Rheumatoider Arthritis, Fibromyalgie, Brustkrebs und als Sturzprophylaxe bei Älteren weit besser wissenschaftlich dokumentiert als im Bereich psychischer Erkrankungen.

Es gibt jedoch deutliche Anzeichen dafür, dass sich das Üben von Taijiquan positiv bei Depressionen, Angstzuständen, Schlaflosigkeit und Posttraumatischer Belastungsstörung auswirkt.
(Fang Wang, Eun-Kyoung Othelia Lee, Taixiang Wu, Herbert Benson, Gregory Fricchione, Weidong Wang, Albert S. Yeung: The Effects of Tai Chi on Depression, Anxiety, and Psychological Well-Being: A Systematic Review and Meta-Analysis. (2013) Int. J. Behav. Med. (2014) 21:605–617, DOI 10.1007/s12529-013-9351-9)

Die bisherige Forschung in Bezug auf PTBS legt nahe, dass das Üben von Taijiquan dabei helfen kann, belastendes Gedankenkreisen zu bewältigen, die Konzentration zu verbessern und Übererregung zu reduzieren – es hat eine tiefe beruhigende Wirkung auf das Nervensystem. Das Gehirn wird ruhiger und der Geist klarer. Die körperliche und geistige Entspannung geht einher mit einem zunehmenden Gefühl von innerer und äußerer Stabilität und Zentrierung. Diese Wirkungen können es den Betroffenen auch erleichtern, sich auf psychotherapeutische Behandlungen einzulassen.

Durch die Beruhigung von Körper und Geist kann Taijiquan dabei helfen, Stresssituationen leichter zu bewältigen und angemessener auf Reize und Auslöser zu reagieren. Menschen mit PTBS, die Taijiquan praktizieren, berichten, dass sie sich entspannter fühlen, das Leben wieder genießen können und über mehr Energie verfügen. Sie können sich wieder Menschen und Aktivitäten zuwenden, die sie vorher gemieden haben.

Wesentliche Aspekte, die offenbar zu einer Verbesserung des psychischen Wohlbefindens beitragen:

  • Taijiquan wirkt strukturierend.
  • Die aufgerichtete, stabile Grundhaltung vermittelt ein Gefühl von Sicherheit.
  • Überflüssige Anspannung wird abgebaut und der Muskeltonus verringert.
  • Der vordere Vagusstrang wird aktiviert und kann zu einem Abbau von latentem Stress beitragen.
    (siehe Ralf Rousseau: Lächelnd die eigene Welt verändern. Trauma, vegetatives Nervensystem, Taiji und Qigong, in TQJ 4/2021)
  • Die fließenden Bewegungen wirken beruhigend und harmonisierend.
  • Taijiquan fördert die neuronale Integration (1) sowie
  • die sensomotorische Integration, das Gefühl, im Körper zu sein, wird intensiviert.

Durch das beständige Üben kommen Betroffene so aus ihrem Stressprogramm heraus, und es kann das Gefühl wachsen, sicher und entspannt auf der Erde zu stehen. In diesem Sinne ist Taijiquan eine sinnvolle Stressbewältigungsmethode.

Schon das regelmäßige Stehen in der Grundstellung kann ein Gefühl von Stabilität und innerer Kraft vermitteln. Das Üben der ruhigen, klaren und langsamen Bewegungen verstärkt das Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit. Es vermittelt eine Art, wie jede Person gut für sich selbst sorgen kann. Man erlernt quasi das Handwerkszeug, um sich immer besser selbst regulieren zu können.

Die fließenden Bewegungen wirken den häufigen Empfindungen, erstarrt oder blockiert zu sein, entgegen und vermitteln das Gefühl, wieder in einen Fluss zu kommen.

Natürlich sind diese Wirkungen nicht nur durch Taijiquan zu erreichen, andere ganzheitlich orientierte Bewegungsmethoden können ebenfalls hilfreich sein. Insbesondere auf bewegtes Qigong können die genannten Aspekte in ähnlicher Weise zutreffen. Vorrangig sollte eine deutliche Ausrichtung auf die Bewegung sein. Vorteilhaft ist beim Taijiquan, dass die Bewegungen einen klaren Sinn haben und es auch eine Außenorientierung gibt, anders als bei Methoden, bei denen man sich ganz in sich selbst vertieft. Dadurch wird die Tendenz PTBS-Betroffener, ihre Umgebung ständig im Blick zu behalten, aufgegriffen und in das Üben integriert.

Ein wichtiger Punkt ist immer die individuelle Akzeptanz für das jeweilige Verfahren. In einer Pilotstudie des Boston University Medical Centers wurde festgestellt, dass das Angebot einer Einführung in Taijiquan für PTBS-Betroffene sehr gut angenommen wurde und die Zufriedenheit damit hoch war.
(Barbara L. Niles und andere: Feasibility, qualitative findings and satisfaction of a brief Tai Chi mind-body programme for veterans with post-traumatic stress symptoms, in BMJ Open, 2016; 6 (11): e012464 DOI: 10.1136/bmjopen-2016-012464)

Als Kampfkunst bietet Taijiquan grade für (ehemalige) Soldat*innen Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, eigene Vorstellungen über kämpferische Auseinandersetzungen zu transzendieren.

Bei den wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirkung von Taijiquan auf psychische Erkrankungen wird in der Regel die Wirkung des Übens nur über einen relativ kurzen Zeitraum beobachtet (typischerweise über zwölf Wochen), häufig wird dabei eine sehr vereinfachte Form von Taijiquan geübt. Das heißt, es wird nur an der Oberfläche gekratzt – umso erstaunlicher, dass sich bereits in dieser kurzen Zeit positive Entwicklungen beobachten lassen. Wenn Taijiquan zum eigenen Übungsweg wird, können sich mit der Zeit weit tiefergehende Wirkungen zeigen. Das Gute ist, dass es unabhängig von Ort und Zeit immer zur Verfügung steht, um sich selbst in ein besseres Gleichgewicht zu bringen.

Die evangelische Militärseelsorge in Deutschland bietet an Einsatzfolgen leidenden Menschen und ihren Angehörigen verschiedene Formate mehrtägiger »Auszeiten« an, die von einem multiprofessionellen Team begleitet werden. In einigen dieser Auszeiten wird gelegentlich auch eine Taiji-Übungseinheit angeboten. Dadurch haben Betroffene eine sehr niedrigschwellige Gelegenheit, Taijiquan für sich auszuprobieren. Die Resonanz ist überwiegend positiv. Die Soldat*innen verspürten häufig unmittelbar ein klareres Körpererleben, eine bessere Körperwahrnehmung.

In den Worten eines Teilnehmers, der daraufhin etwas mehr ins Taijiquan eingestiegen ist:

Taiji bringt mich runter. Die fließende Bewegung beruhigt. Man findet zu sich selbst. Der stabile Stand, die Mitte zu spüren, dadurch kann ich meine Aggression kanalisieren, kann mich selbst steuern, meine Energie bündeln. Ich werde klar im Kopf. Ich habe Stress ohne Ende, fahre schnell hoch. Durch Taiji reguliere ich meinen Stress. Ich finde in einen Zustand, wie ich eigentlich bin.

Die Weiterführung des Taijiquan-Lernens wird für Betroffene dadurch erschwert, dass sie sich oftmals in Gruppen unwohl fühlen und dass es ihnen aufgrund ihrer diversen Beschwerden, ihrer Gemütsschwankungen und ihrer Lebenssituation schwerfällt, regelmäßige Termine einzuhalten. Wenn die Teilnahme an einem allgemeinen Kurs möglich ist, sollte auf eine ruhige, vertrauensvolle, geschützte Atmosphäre geachtet werden. Es kann hilfreich sein, wenn eine Vertrauensperson dabei ist, die den Betroffenen beziehungsweise die Betroffene emotional unterstützt und Sicherheit gibt.

Dabei ist Taijiquan kein therapeutisches Verfahren, sondern kann für Menschen, die an einer PTBS erkrankt sind, ein hilfreicher und interessanter Übungsweg sein, den ein Mensch unabhängig von einer Erkrankung gehen kann. Das heißt, es bietet einen Raum, in dem jemand für sich sorgt, der aber nicht durch die Erkrankung definiert wird. Es kann langfristig zu einer immer stärkeren Stabilisierung und zunehmenden Gelassenheit führen.

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Fußnoten und Literatur

(1) Der Begriff »Neuronale Integration« bezeichnet die Koordination und Ausrichtung der neuronalen Aktivitäten in verschiedenen Hirnregionen. Im Falle von PTBS-Betroffenen kann es durch Trigger dazu kommen, dass wie in einer akuten Bedrohungssituation das Limbische System die Reaktion steuert und der Zugriff auf den Neokortex, der einen bewusste  Umgang mit der Situation ermöglicht, blockiert ist. Durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf gezielte Körperbewegungen können die Betroffenen die Blockade überwinden und zu einem bewussten Umgang mit den aktuellen Erfordernissen zurückfinden.

Die Übersetzung der englischsprachigen Zitate erfolgte durch die Autorin.

  • Barbara L. Niles, DeAnna L. Mori, Craig P. Polizzi, Anica Pless Kaiser, Annie M. Ledoux, Chenchen Wang:
    »Feasibility, qualitative findings and satisfaction of a brief Tai Chi mind-body programme for veterans with post-traumatic stress symptoms«,
    in BMJ 2016 Vol. 6 (11),
    https://bmjopen.bmj.com/content/6/11/e012464 
  • Pao-Feng Tsai, Stephanie Kitch, Jason Y. Chang, G. Andrew James, Patricia Dubbert, J. Vincent Roca, Cheralyn H. Powers:
    »Tai Chi for Posttraumatic Stress Disorder and Chronic Musculoskeletal Pain: A Pilot Study«,
    in Journal of Holistic Nursing 2018 36(2), S. 147-158,
    https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/08980101176976 
  • Barbara L. Niles, Kieran F. Reid, James W. Whitworth, Elaine Alligood, Sarah Krill Williston, Daniel H. Grossman, Maria M. McQuade, DeAnna L. Mori:
    »Tai Chi and Qigong for trauma exposed populations: A systematic review«,
    in Mental Health and Physical Activity Vol. 22, März 2022,
    www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1755296622000114 

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Die Autorin

Almut Schmitz

studierte Medizinethnologie und begann Anfang der 1980er Jahre bei Christel Proksch Taijiquan zu lernen.

Sie unterrichtet Chen-Stil Taijiquan in der Tradition von Chen Xiaowang und Qigong in Ostholstein und international und arbeitet seit 2000 für die Redaktion des TQJ.

www.taiji-qigong-ostholstein.de 

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