Das Daodejing des Laozi im Taijiquan - Buchausschnitt

Der nachfolgende Artikel “Das Daodejing des Laozi im Taijiquan” ist ein Ausschnitt des 2015 bei Lotus Press erschienenen Buches „Das Daodejing im Taijiquan – die Übungsanleitung des Laozi“. Jan Silberstorff versucht in diesem Buch die Lehrsätze des Laozi für ein effektives Taijiquan-Training dem (nicht nur) westlichen Leser zugänglich zu machen.

Das Daodejing im Taijiquan – Vers 38

Im Taijiquan-Unterricht begegnen wir einer Fülle von Anregungen, die das eigene Training verständlicher machen und, so hoffe ich, ungemein bereichern und vertiefen. Um aber all diese Hinweise nicht nur in ein Technik orientiertes, mechanisches Training münden zu lassen, sondern es einem ganzheitlichen, auf unser gesamtes Leben zugreifendes System hin zuzuordnen, bedarf es einer Struktur, in der alle zuvor gelieferten Hinweise ihren Platz finden, ja sich niederlassen können. Eine Struktur erleichtert es ungemein, die verschiedenen Hinweise zu einem roten Faden zu verknüpfen. Dieser rote Faden ist der Weg, auf dem ich dem Ziel näher komme. Der Weg ist das Ziel. Dieser Weg kann beschritten werden durch den roten Faden, die Struktur. Aber der Weg mündet auch irgendwann in ein Ziel, das hinter dem Weg liegt, ja den Weg hinter sich zurückliegend vorfindet. Das Ziel empfindet dann die Struktur als das, was das Floß darstellt, dass man auf der anderen Seite des Flusses nicht mehr mit sich herumträgt, sondern am Ufer liegen lässt. Ohne das ich aber auch nicht auf die andere Seite gelange. Nun haben wir in dem Taijiquan System nach Großmeister Chen Xiaowang eine sehr klare Trainingsstruktur hinterlassen bekommen, die immer auch vor einem liegt. Denn selbst nach dem Erreichen des fünften Level hört die Verbesserung niemals auf. Diese Struktur führt uns nach und nach durch sie selbst. Beziehungsweise durch die Erfahrung, die ich durch sie in meinem vertieften Training mache. So gelangen wir fast schon automatisch zu der Abfolge, wie sie Laozi in seinem Vers 38 vorgibt:

失道而後德.
失德而後仁.
失仁而後義.

失義而後禮.
夫禮者忠信之薄而亂之首.

Ist der SINN (DAO) verloren, dann das LEBEN (DE).
Ist das LEBEN (DE) verloren, dann die Liebe.
Ist die Liebe verloren, dann die Gerechtigkeit.
Ist die Gerechtigkeit verloren, dann die Sitte.
Die Sitte ist Treu und Glaubens Dürftigkeit
und der Verwirrung Anfang.

Da wir auf uns auf unserem Weg empor entwickeln wollen, sei es gestattet, diesen einmal in der Reihenfolge der Praxis als von unten nach oben aufsteigend zu skizzieren:

Aus der Verwirrung erhebe ich mich zur Sitte.
Aus der Sitte erhebe ich mich zur Gerechtigkeit.
Aus der Gerechtigkeit erhebe ich mich zur Liebe.
Aus der Liebe erhebe ich mich zum LEBEN (DE).
Aus dem LEBEN (DE) erhebe ich mich zum SINN (DAO):

DAO 道

DE 德

Liebe 仁

Gerechtigkeit 義

Sitte 禮

Verwirrung 亂

So erklimmt der Mensch (ren 人) auf dem Weg zum Gipfel seiner Schöpfung innerhalb spiritueller Praxis, die eigene Ver(w)irrung hinter sich lassend, zuerst die Anhöhe der Moral, der Sitte und der gesellschaftlichen Verpflichtung zur Ordnung. Von dort aus kann er, angekommen auf der Lichtung der Gerechtigkeit, diese Sitte insofern hinter sich lassen, als dass er ihr auch freiwillig Folge leistet, da er nun auch dem anderen zugesteht, was er selbst gerne möchte. Durch die vertiefte Praxis der Selbstlosigkeit dann steigt er auf den Felsen der Liebe, die wiederum die Gerechtigkeit als nicht notwendig erscheinen lässt. Denn wenn ich dem anderen sowieso lieber geben möchte, als von ihm zu bekommen, wo braucht es da noch des gewollten Teilens? Von dort aus ist der Weg nicht mehr weit zur Vollkommenen Tugend, zum wahren LEBEN, zur ursprünglichen Wirkkraft des DAO selbst, dem DE. Wer in diesem Zustand verweilen kann, ist längst über den Wolken unter strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel. Alles, selbst die Liebe fällt ihm leicht, denn er ist in ewiger Freude – wie könnte er da nicht anders als liebend und gütig sein? Von dieser Bergspitze aus sich in den tiefsten Weltenschlund stürzend, von allem loslassend sich nur noch in seine eigene Schöpfung, sprich in sich selbst fallenzulassen, ist dann der Aufstieg in den Himmel, ja darüber hinaus zu dem ohne das nichts ist und das selbst doch nicht ist, obwohl es ewig ist: dem DAO.

Der Sinn dieses Artikels ist es, die Aussagen des Laozi nun konsequent und direkt auf unser Taijiquan zu beziehen. So wollen wir diesen Aufstieg zur Vollkommenheit auf unsere Taiji-Praxis übertragen:

Sitte, li 禮,

bedeutet vornehmlich Ritus. Ritus bezeichnet Regeln.
Beginnt der Neuschüler mit Taijiquan, so braucht er, will er sich seiner prinzipienlosen, unzentrierten und unkoordinierten (luan 亂) Bewegungen entledigen, als erstes Regeln und Ritus. Die Regeln sind die grundlegenden Erfordernisse, wie eine Bewegung auszuführen ist. Wir finden dies in den Überschriften des Wai- und Neisanhe, den Äußeren und Inneren Zusammenschlüssen zusammengefasst. Der Ritus ist die Form selbst. Ein Ritual an Bewegungen, gegeben, um durch sie zu der universellen Wahrheit des Taiji vorzudringen. Sind diese beiden Dinge gemeistert, sprich kann das Ritual der Form mit den Erfordernissen der Regeln vollzogen werden, so gilt es den nächsten Schritt in Angriff zu nehmen:

Die Gerechtigkeit, yi 義.

Was aber ist nun die Gerechtigkeit in unserer Taiji-Form? Gerechtigkeit bezeichnet im sozial-gesellschaftlichen Sinne ein Ausbalancieren der Bedürfnisse aller Menschen, so dass keiner zu kurz kommt. Gerechtigkeit bedeutet daher, dass der eine mit dem anderen so in Balance gesetzt wird, dass alle innerhalb einer gewissen Flexibilitätsebene in Ausgewogenheit zueinander sind. Hat der eine zuviel, gibt er dem anderen. Bezogen auf unsere Form bedeutet dies: ich muss nun, nachdem die grundlegenden Anforderungen der Form gemeistert sind, anfangen, alle Teile des Körpers, seien sie äußerlich, seien sie innerlich, seien sie stofflich oder seien sie geistiger Natur, miteinander in ein Gleichgewicht zu bringen. Die Aufmerksamkeit soll mit dem Herzen ausgewogen sein. Die innere Energie soll mit der Kraft ausgewogen sein. Die Sehnen und Knochen sollen zueinander ausgewogen sein, wie auch Schultern und Hüften, Ellenbogen und Knie, sowie die Hände mit den Füßen. Genauso alles, was bis ins Allerkleinste dazwischen liegt jeweils mit ihrem Gegenüber.

Ganz wie Chen Xin, 16. Generation der Chen Familie darüber in seinem Taijiquan Tushuo in Bezug auf die Schiebenden Hände schreibt:

„Die Hände sind wie eine Waage. Wiege etwas und du weißt, es ist Gewicht. Der Pfad der Kampfkunstpraxis ist der, eine Waage in deiner Aufmerksamkeit zu haben. Durch diese unsichtbare Waage kannst du dich deinem Gegner annähern in Bezug auf seine Bewegungen nach vorne und nach hinten und zu seiner Geschwindigkeit. Benutze das Bewusstsein, welches zu meistern ist in täglicher Praxis. Sichtbare Zeichen durch eine unsichtbare Waage wiegen und das regulieren, was beide Hände wahrnehmen, dabei hinzufügen oder hinwegnehmen, wenn nötig: Wer das vermag, wird eine Exzellente Hand (Meister) genannt.“

So müssen wir dies in den Solo-Formen innerhalb unseres Geistes und Körpers absolvieren. Alles im Körper muss ausgewogen und in Harmonie zueinander sein. Dann entsteht im inneren des Körpers auf natürliche Weise das, was innerhalb einer gerechten Gesellschaft im Äußeren geschehen mag: Wir werden zufrieden. Bei weiterer Harmonisierung innerhalb unseres Geist-Körpers steigert sich diese Zufriedenheit hin zu einem wunschlosen Glücksgefühl, hervorgerufen durch den buchstäblichen inneren Frieden, der sich hierdurch bei uns eingestellt hat. Dieses Glücksgefühl führt uns automatisch zu einem Gefühl

liebender Güte, ren 仁.

Denn in meiner wunschlosen Freude gibt es nichts, was ich dem anderen missgönne oder nicht auch wünschen möchte. Wir sehen dies schon daran, dass, wenn einmal in diesem Zustand trainierend, wir ein liebendes Gefühl zu der uns umgebenden Natur, den Bäumen, dem Wind und auch unseren ‚kleinen Mitbewohnern‘ gegenüber entwickeln, die wir nun achtsam behandeln und auf diese wir nun ganz sicher nicht mehr drauftreten möchten. So verändern sich dann durch diese erfahrene liebende Güte auch Lebensgewohnheiten wie z.B. einem möglichen Wechsel zu einer vegetarischen Lebensweise, einem respektvollem Umgang mit anderen Menschen, Tieren, Pflanzen, auch zu uns selbst, kurz der Gesamtschöpfung. Dieses Gefühl der Einheit mit der Schöpfung wiederum ist der Eintritt in dessen

Wirkkraft DE 德.

In diesen Stufen unseres Taijiquan Trainings geht unser Empfinden daher weit über das Körperliche hinaus. Auch die Empfindung von Selbstverteidigung entwickelt sich von einer Haltung des ‚Schützens vor dem Anderen‘ hin zu einem Annehmen und Verstehen lernen des Anderen und der tatsächliche Überlebensinstinkt und die Suche nach Schutz wird hin zu dem Nicht-Räumlichen und Nicht-Zeitlichen verlagert in dessen Freiheit ich ewig und unverletzt nichtseiend sein kann. Ist eine physische Selbstverteidigung schließlich und endlich nur eine Hinauszögerung des eigentlichen Problems, des Sterbens, so tun sich dem Übenden hier Wege auf, genau dieses zu überwinden, was wir Sterben nennen – was sicherlich in höchstem Maße als Selbstverteidigung bezeichnet werden kann. Wenn gleich wir genau hierfür unser Selbst beim Eintreten in diesen Zustand abzugeben haben:

沒身不殆
Ohne Selbst – keine Gefahr!’ (Daodejing Vers 52)

Und somit bewirkt der Eintritt in die strömende ursprüngliche Kraft des Unausprechlichen, dem DE, die nun nachfolgende Einung mit dem

DAO 道.

In dieser Parallele zwischen Laozis Entwicklungsweg einer Gesellschaft hin zur Einung mit dem DAO finden wir konkret die verschiedenen Abstufungen mit ihren Erfordernissen bzw. Geschehnissen unserer Taiji-Praxis. Während die ersten beiden Stufen des Ritus und der Regeln, bzw. der Gerechtigkeit noch ein aktives Tun beinhalten, so wandelt sich die Praxis über das Erfahren der liebenden Güte bei gleichbleibend‚ andauernder ununterbrochener Bewegung bei vertiefendem inneren Frieden zu einem Wachsen hinein in das Wuwei, dem Nichthandeln:

孰能安以久動之徐生.
Wer vermag Ruhe (Frieden) durch ausdauernde Bewegung allmählich zu erzeugen?‘ (Daodejing Vers 15)

Sprich während wir in den ersten beiden Stufen aktiv versuchen einen bestimmten Zustand herzustellen, so stellen sich die vertieften Zustände der letzten drei Stufen bei anhaltender Praxis von selbst ein.

So finden wir über die Struktur des Chen Xiaowang Systems hin zu einer übergreifenden Struktur, die das gesamte Wesen, ja die gesamte Schöpfung an sich zu durchdringen vermag und erfahrbar macht.

Ganz wie Laozi sie in Vers 38 beschreibt.