Taijiquan üben in unsicheren Zeiten

Lao jia yi lu (chinesisch 老架一路, lǎo jià yī lù), bedeutet direkt übersetzt: alter Rahmen erste Form. Diese Form wird auch die 75er Form genannt, da sie sich aus 75 verschiedenen sogenannten Bildern zusammensetzt. Es ist die älteste überlieferte Taiji-Form. Manchmal wird sie auch als das Juwel des Chen Stils bezeichnet. Ich bin immer wieder fasziniert, wie sich durch das langsame und genaue Üben dieser Form eine tiefe Ruhe und Verbundenheit in mir eingestellt.

Ein Ablauf dieser Form dauert zwischen 20 bis 50 Minuten. Zurzeit laufe ich sie wieder eher sehr langsam, also so ungefähr 50 Minuten. Es fühlt sich tatsächlich an wie mit einem großen alten Fluss zu fließen. Zwar bewege ich mich durch Raum und Zeit, aber in mir selbst eher wie auf einem Floß, gleichzeitig auch irgendwie bewegungslos. Die Gedanken kommen zur Ruhe bzw. sind gar nicht mehr vorhanden. Mit zunehmender Zeit der Praxis entstehen eine Stille und gleichzeitig eine tiefe Verbundenheit. Es ist, als ob sich die Trennung von außen und innen aufhebt. Und schließlich entsteht ein Raum, ein „Etwas“, jenseits von Raum und Zeit. Und da ist alles gut so wie es ist. Es fühlt sich sehr, sehr gut an.

In diesen ungewissen und aufregenden Zeiten gibt mir das tägliche Taiji-Training Zuversicht, Hoffnung und es stärkt mich. Es klingt vielleicht etwas kitschig, aber ich bin unendlich froh und dankbar dafür. Und ich hoffe, in meinem Leben schon einigen Menschen dabei geholfen zu haben, jetzt diesen Raum aufsuchen zu können. Wie kommt das jetzt eigentlich zustande und was passiert da genau? Für das Taiji-Training ist das Zur-Ruhe-kommen des Geistes eigentlich so etwas wie eine Voraussetzung. Um die Form aufmerksam und konzentriert zu üben, muss der Geist schon ruhig sein. Zuerst ist das Wuji* (chinesisch 无极, wújí). „Wuji kann wörtlich als „ohne Äußerstes“ übersetzt werden. Als philosophisches Fachwort sollte es aber besser als „Urzustand“, „Urgrund“ oder „Gipfel des Nichts“ bezeichnet werden. Mit Wuji wird ein ungeordneter Urzustand des Kosmos bezeichnet. Dies ist ein Zustand ohne Polarität, d. h. ohne yin und yang.“ (Martin Bödicker)

Wenn Yin und Yang sich trennen entsteht Taiji, der ewige Wandel.

Um dem Zustand des Wuji näher zu kommen, wird die sogenannte „Stehende Säule“, die Stehmeditation in unserem System praktiziert. Deswegen wird oft empfohlen, vor dem Formtraining die Stehmeditation zu machen. Um die Form wirklich langsam und aufmerksam zu üben, um alle Ungenauigkeiten wahrzunehmen, dafür braucht es einen ruhigen Geist. Deswegen gehen wir zuerst in die Stille, also in Richtung Wuji. Taijiquan entsteht dann aus diesem Wuji.

In der Praxis kann das aber auch so gehen: Bin ich nun schon ruhig, kann ich genauso gut zuerst eine Form laufen und danach noch die Stehmeditation anschließen. Und zwar einfach weil ich Lust dazu habe. Nicht um etwas erreichen zu wollen oder zu müssen. Oder aber auch so: Ich komme durch die erste Form des Tages erst so weit zur Ruhe, dass ich mir überhaupt vorstellen kann die Stehmeditation zu machen. Habe ich dann etwas gestanden, bin ich vielleicht so neugierig, wie sich jetzt wohl diese zweite Form des Tages anfühlt und was ich alles dabei erleben werde, so dass ich gleich noch eine Form laufe. Und so kommt manchmal eine Form nach der anderen zustande. Das Formlaufen stellt eine schon etwas fortgeschrittene Art des Trainings dar. Zuerst kommen die Basisübungen (Seidenübungen, Reeling Silk) sowie das Stehen. Dabei lernen wir das Prinzip der wai san he (chinesisch 外三合, wài sān hé) kennen, die sogenannten äußeren 3 Zusammenschlüsse:

1. Schultern und Hüften verbinden sich
2. Ellenbogen und Knie verbinden sich
3. Hände und Füße verbinden sich

Chen Xiaowang gibt in seinem Buch, die 5 Level des Taijiquan folgende Empfehlungen: Während des Übens sollen wir darauf achten, diese Zusammenschlüsse in der Bewegung zu bewahren. Wenn das so weit klar ist, dann gilt es sich auf das nei san he (chinesisch 内三合, nèi sān hé) zu konzentrieren, die sogenannten 3 inneren Zusammenschlüsse:

1. Xin yu yi he (chin. 心与意合, xīn yǔ yì hé): Herz und Verstand fließen zusammen

Jan Silberstorff schreibt zum ersten dieser inneren Zusammenschlüsse: Herz und Verstand fließen zusammen „bedeutet daher Willen, Gefühl, Verstand, Emotionen, kurz unser gesamtes mentales Innenleben, zur Einigkeit zu führen … So können einhundert Prozent Geisteskraft und mentale Stärke entstehen … Im Ideal entsteht ein einsgerichtetes Bewusstsein, dass ohne Ablenkung konzentriert ist. Ein Bewusstsein, das nicht nur die Bewegung führt, sondern die Bewegung ist“. (Chen, S. 250)

2. Qi yu li he (chin. 气与力合, qì yǔ lì hé): Qi und Kraft fließen zusammen

Hier wird die innere Energie, das Qi so geführt, dass es sich mit den Muskeln verbindet, wodurch die Muskulatur viel verfeinerter eingesetzt werden kann. (ebd. S. 252)

3. Jin yu gu he (chin. 筋与骨合, jīn yǔ gǔ hé): Bänder, Sehnen und Knochen fließen zusammen

„Jin yu gu he bedeutet schließlich, dass die Sehnen und die Knochen nicht nur für sich selbst, sondern als Sinnbild für das gesamte Bindegewebe, für Nerven, Organe und alles, was wir im Körper haben, steht.“ (ebd. S. 253)

So entsteht dann mit der Zeit dieser von mir eingangs beschriebene Energiefluss, der sich nur noch gut anfühlt. Selbstvergessen. Ich selbst trete hinter die Form zurück. Es fließt von alleine.

Jan Silberstorff beschreibt es so: „Dadurch entsteht ein äußerst tiefes, durchdringendes, ganzheitliches und vollständiges Gefühl. Zu den Effekten von Kraft und Gesundheit ergibt dies einen Zustand der Abwesenheit von Sorgen und Ängsten. Einen freien Zustand wirklicher Gelöstheit.“ (ebd. S. 254)

Wie gesagt, das Formtraining ist schon ein relativ fortgeschrittenes Training. Ohne Basistraining kommen wir da nicht hin. Es gibt keine Abkürzung heißt es so schön. Jeder Versuch einer Abkürzung wäre ein Umweg. Aber gerade jetzt stelle ich wieder fest: Es lohnt sich.

Regelmäßiges Taiji-Training verschafft uns in erster Linie Wohlbefinden. Schon die Stehmeditation vermittelte mir mehr und mehr ein Gefühl der eigenen Mitte. Wir nehmen uns selbst wahr. Wir füllen den Raum in uns. Wir können den Körper mehr und mehr mit Bewusstsein füllen. Das Stehen stärkt unsere Mitte, unsere Stabilität, es kräftigt uns. Das Üben schenkt uns Selbstvertrauen. Wir stehen sicherer in dieser Welt. Je sicherer wir uns fühlen, um so besser können wir entspannen. Und so bewegen wir uns auch sicherer und entspannter durch dieses Welt. Oder lassen uns bewegen. Weich und ohne unnötig Energie zu verschwenden.

Absichtslos, selbstvergessen frei von Ängsten und Übereifer.

Taijiquan als Lebenskunst bietet eine wundervolle Möglichkeit, sich etwas Gutes zu tun: zur Ruhe zu kommen, sich immer besser zu zentrieren und dadurch mehr Stabilität zu finden, um den Widrigkeiten des ganz normalen Alltags besser standhalten zu können. Gerade in schwierigen Zeiten ist es dann ein unermesslicher Schatz.

Dankbar.
Sasa Krauter
28.04.2020
www.sasakrauter.de

Erfahrbar wird Taijiquan in seiner ganzen Tiefe erst in der Praxis. Es ist ein langer Prozess und doch schon in den ersten Stunden spürbar wohltuend.

Zu den unterschiedlichen Schreibweisen Taiji, Tai Chi etc. gib es hier Aufklärung.

Quellen:
taiji-forum.de/glossar/wuji, Martin Bödicker
CHEN – Klassisches Taijiquan im lebendigen Stil, Jan Silberstorff
Die 5 Level des Taijiquan, Chen Xiaowang