Der Ursprung des Taijiquan – der Chenstil

Taijiquan, das heißt „Tajij“ als Oberbezeichnung der Erfahrung von Yin und Yang, und „Quan“ (Faust) als Begriffsunterstützung einer Kampfkunst. Taijiquan ist einer der berühmtesten Wushu-(Gongfu-) Stile Chinas, und zählt zu der großen Familie der Neijiaquan, der sogenannten inneren Kampfkunst.

Die Philosophie des Taiji - die  Harmonisierung der Gegensätze - ist eine der ältesten der Erde. Laozi sagt: „Aus der Eins entsteht die Zwei, aus der Zwei die Drei und die zehntausend Dinge.“ Aus dem Urzustand (Wuji), dem Ungeteilten, dem weder Sein noch Nicht-Sein, entsteht Taiji, die Wandlung der Polaritäten. Sie entsteht aus der Verbindung der Gegensätzlichkeit und deren Abhängigkeit voneinander, dem ständigen Zusammenspiel von Yin und Yang als Symbol hierfür. Aus dessen unendlichen Kombinationsmöglichkeiten entsteht alles Bekannte und Unbekannte, sprich die zehntausend Dinge. Wer sich nach diesem Naturgesetz richten kann, so heißt es, kann seine natürlichen Tage zu Ende leben und in Frieden und Harmonie auf dieser Erde wandeln. Wer diesem zuwiderhandelt, erleidet Krankheit und Disharmonie.

Taijiquan lehrt als Kampfkunst, die Harmonie der Gegensätze zu pflegen und so ein hohes Alter voller Zufriedenheit zu erreichen, sowie Aggressionen, die entgegen diesem Prinzip auf uns einwirken, leicht überwinden zu können. Es ist eine defensive Kampfkunst, ihr Charakter aber ist in ständigem Wandel, entsprechend der Kräfte, die auf uns wirken. Bricht ein starker Angriff auf uns hinein, geben wir ihm nach (Yin), gerät der Gegner aus seinem Gleichgewicht, zerstören wir ihn vollends (Yang). Prescht der Gegner vor, weichen wir zurück (Yin), zieht er sich zurück, folgen wir (Yang). Immer aber halten wir die Kontrolle. Yin und Yang wechseln sich ab, ergeben einander nicht wie wir es wollen, sondern genau wie die Natur (hier die Situation) es uns vorgibt. Ob Lebenspflege, Gesundheit oder Selbstverteidigung, das Prinzip ist immer dasselbe. Das ist Taijiquan: Die Kunst im Kampf (Quan), sprich auch im Leben, dieses Prinzip des Höchsten Letzten (Taiji) umzusetzen.

Jede Kampfkunst hat ihre Entstehungslegenden. So auch Taijiquan.

Die Mythen erzählen von einem Alchimisten aus dem Wudang-Gebirge namens  Zhang Sanfeng, der dort im 12.Jahrhundert gelebt haben soll. Viele Bücher jedoch, die nach 1921 in China erschienen sind, sprechen von einem Zhang Sanfeng, der als daoistischer Priester im 15.Jahrhundert ebenfalls im Wudang gelebt haben soll. Es wird erzählt, er habe den Kampf einer Schlange mit einem Kranich beobachtet und diesen als Basis für seine neue, weiche Kampfkunst genommen. Eine andere Geschichte erzählt, der legendäre Kaiser Xuan Wu habe Zhang Sanfeng Taijiquan im Traum als Geschenk der Götter gebracht. Es gibt allerdings keine literarische Quelle vor Anfang des 20. Jahrhunderts, in der Zhang Sanfeng überhaupt als Kampfkünstler dargestellt wird. Als dritte legendäre Quelle gelten die Schriften des Xu Xuanping aus der Tang- Dynastie (8.Jhd).

Die historische Entwicklung, d.h. wie es geschichtlich nachweisbar ist, sieht in wohl allen Kampfkünsten dann jedoch oftmals recht anders auch. So auch im Taijiquan.

Von namhaften Kampfkünstlern und Forschern wie u.a. von Tang Hao (1897-1959) und Gu Liuxin (1908-1991) wurde jedoch in den 1930er Jahren in China ganz klar Chen Wangting aus Chenjiagou als Begründer des Taijiquan offiziell erwiesen. Damit hat Taijiquan an sich eine inzwischen über 350 Jahre währende Geschichte. Natürlich gab es schon immer Vorstufen von Entwicklungen. Alles Seiende entsteht aus etwas Vorherigem. Auch gab es schon immer Formen des Kampfes (Wushu) und Techniken der Gesunderhaltung (z.B. Qigong). Wir wollen uns hier jedoch lediglich auf die Verbindung dieser beiden Aspekte, wie wir es heute als Taijiquan kennen, beziehen. Legendär ist Taijiquan daher  knapp 1000 Jahre alt...historisch 350.

Taijiquan entstand zu Beginn der Qing-Dynastie (1644-1911) in dem Dörfchen Chenjiagou des Landkreises Wen der Provinz Henan. Chen Wangting (1597-1664) war 9. Generationsfolger von Chen Bo, dem Begründer der Gemeinde Chenjiagou (Chen=Familienname, Jia=Bezeichnung für Familie, Gou = wörtl. Graben). Gemäß den Annalen der Chen-Familie, galt er als berühmter General, welcher durch den Wechsel der Ming- zur Qing-Dynastie der Gesellschaft den Rücken zukehrte. Durch den Regierungswechsel und seine dadurch verfallenen Ehren erkannte er die Unbeständigkeit aller Dinge und zog sich in sein Heimatdorf zurück. Dort, beeinflußt durch den Daoismus, widmete er sich der  Feldarbeit, der Unterweisung der jüngeren Generation und der Ausarbeitung der erst später als Taijiquan bezeichneten Kampfkunst. Folgende Tatsachen belegen, daß Taijiquan nicht vor Chen Wangting entstandenen sein kann:

  1. Das Buch des Autors Qi Jiguang (1528-1587), welches die Hauptmerkmale der damals bekanntesten Boxrichtungen Chinas herausstrich, erwähnt das Taijiquan nicht.
  2. Die alle von Chen Wangting kreierten fünf Formen Taijiquan, die eine Form des Langen Boxens mit 108 Bewegungen und die Paochui-Form beinhalten aber 29 der 32 Figuren, welche Qi Jiguangs Buch erwähnt.
  3. Die ersten beiden Figuren in Qi Jiguangs Buch sind „ Den Mantel befestigen“ und „Die einzelne Peitsche“. Auch die Formen nach Chen Wangting beginnen damit. Dementsprechend kann Taijiquan nicht vor Qi Jiguang entstanden sein, sondern ist im Gegenteil sogar von ihm beeinflußt worden.
  4. Chen Wangting beschreibt die Charakteristika der Schiebende-Hände-Übung welche in anderen Werken namhafter Kampfkünstler bis zu seiner Zeit fehlen.
  5. Die Annalen der Chen-Familie.
  6. Von Chen Wangting ist über alle folgenden Generationen jeder Meister des Taijiquan aller fünf großen Taiji-Schulen (Chen- (und Zhaobao-), Yang-, Wu-, Wú- und Sun-Stil) ableitbar. Chen Wangting selbst aber ist auf niemanden zurückführbar. 

Demnach können wir den Chen-Stil als Mutterstil des Taijiquan bezeichnen. Seine historische Entstehung liegt in der Zeit nach 1644 (Fall der Ming-Dynastie) und vor 1680 (Tod Chen Wangtings). Weitere chinesische Quellen legen die genaue Entstehung in die 60er Jahre der 17. Jahrhunderts, also 20 Jahre nach dem Dynastiewechsel. Gesichert ist, dass Chen Wangting eine Form Changquan (nicht zu vergleichen mit der heutigen staatlichen Stilrichtung des modernen Wushu), fünf Routinen Taijiquan und eine Routine Paochui entwickelte. Da nach Quellen der Chen-Familie schon in den Generationen vor Chen Wangting intensiv Kampfkunst betrieben wurde, komme ich nach längerer Untersuchung zu dem Schluß, dass es sich bei der Changquan-Form vermutlich um eine Form der Tongbeiquan ("Hontongbei“ aus Hongtong, Shanxi) mit 108 Figuren handelt. Ich begründe diese Tatsachen folgendermaßen: Erstens ist Tongbeiquan bereits vor Chen Wangting in der Chen-Familie betrieben worden. Zweitens existiert heute noch in der dem Landkreis Hongtong der Provinz Shanxi eine Form „108 Bewegungen (Hong-) Tongbeiquan“, welche zwei Generationen nach Chen Wangting aus Chenjiagou dorthin getragen worden sein soll. Dies entstammt Quellen des (Hong-) Tongbeiquan. Die fünf Routinen Taijiquan und Paochui sind später in der 14.Generation von Chen Changxing (Lehrer von Yang Luchan) in der 1. Form (Taijiquan) und 2. Form (Paochui) zusammengefaßt worden.

In seinen Formen kombinierte Chen Wangting die Schwerpunkte der zu der Zeit bestehenden, ihm kenntlichen Kampfkunstsysteme. Diese verband er mit der Technik des Daoyin (Übungen zur Entwicklung innerer Energie durch geistige Führung in Verbindung mit Bewegung) und des Tuna (Atemübungen). Viele der heute als Qigong (wörtl.: Arbeit mit der inneren Energie) bezeichneten Übungen setzen sich aus Verbindungen oder Teilen von Daoyin und Tuna zusammen. Er schuf demnach einen Stil, der Kampftechnik und Gesundheitsübung direkt miteinander verband, sprich in ein und derselben Übung stattfinden läßt. Somit wurde ein System kreiert, welches die Entwicklung innerer und äußerer Kraft gleichzeitig fördert. Aufmerksamkeit (aus dem Daoyin), Atmung (aus dem Tuna) und Bewegung (aus der Kampfkunst) verschmelzen zu einer Einheit. Ein neues, ganzheitliches Übungssystem war entstanden.

Taijiquan gilt heute als weitverbreitetste Kampfkunst der Welt. Die Gründe liegen sicherlich zum einen in der enormen Vielseitigkeit dieses Systems, der Verbesserungsmöglichkeit bis ins hohe Alter sowie natürlich dem hohen gesundheitlichen Nutzen. Allerdings muß angemerkt werden, dass bei weitem nicht jeder, der Taijiquan ausübt, diese Kunst auch wirklich durchdringt. Gerade in der Umsetzung als Selbstverteidigungsmethode mangelt es den meisten Praktizierenden doch erheblich. Unverständnis und fortlaufende Vereinfachung des Systems führen aber natürlich zwangsläufig dazu, dass die tatsächliche Tiefe gar nicht erkannt, geschweige denn gemeistert werden kann. Teilweise führt dies zur Geringschätzung von Taijiquan an sich, oder aber es entstehen Fernabentwicklungen, die nicht wirklich mehr etwas mit Taijiquan zu tun haben. Wer Taijiquan tatsächlich verstehen und auf diesem Wege trainieren kann, ist unweigerlich fasziniert von der Ganzheitlichkeit dieses Übungsweges und kann sich in Ruhe weiterentwickeln. Das Wesen von Taijiquan ist die Wandlung, und so entwickelt sich auch die Kunst unaufhörlich weiter. Aber sinnvolle Entwicklung setzt Verständnis der Dinge voraus. Auf dieser Basis wird wirkliches Taijiquan auch in Zukunft Bestand haben können.

Doch nicht nur Taijiquan hat sich dieses innere Prinzip des Taiji zur Basis gemacht.
Es gilt wohl als der bekannteste Stil der sogenannten Inneren Kampfkünste. Aber auch Xingyiquan und Baguazhang sind über die Grenzen Chinas hinaus bekannt geworden. Allen gemein ist die Philosophie, die Seele dieser Kampfkunst-Familie: Taijiquan beruft sich auf die Zusammenhänge von Yin und Yang, Xingyiquan auf die Verbindung der Fünf Elemente und Baguazhang auf die acht Trigramme. Die Basis aller dieser Dinge ist ihr gemeinsamer Ursprung, das Dao und die Wandlungsphasen von Yin und Yang. Alle drei Künste sind, richtig ausgeführt, sehr effektiv und entwickeln ein hohes Maß an innerer Energie, was einen Wesenszug Innerer Kampfkünste darstellt.  

Jan Silberstorff