Taijiquan in der Aggressionsbewältigung

Kampfkunst in der Aggressionsbewältigung - das ist mittlerweile ein alter Hut. Viele Konzepte, die Kampfkunst zur Aggressionsbewältigung anwenden, setzen darauf, Menschen mit Aggressionsproblemen in ein klassisches Lehrer-Schüler System zu integrieren. Werte wie Disziplin, Respekt und Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb eines Familiensystems sollen überschüssige Energie in andere Bahnen lenken und Aggressionsausbrüche verhindern.

Die Grundvoraussetzung, dass diese Methode funktioniert, liegt in der Bereitschaft, sich auf ein solches System einzulassen und über einen längeren Zeitraum Arbeit und Mühe zu investieren, um die entsprechenden Fähigkeiten zu erlernen (Gong Fu). Ob die erlernten Fähigkeiten dann tatsächlich zu einer Deeskalation führen und aggressives Verhalten und die Ausübung von Gewalt verhindern, bleibt zu hoffen.

Tatsache ist, dass die Ausübung von Gewalt von diesem Klientel als sehr positiv besetzt empfunden wird. Mit Hilfe von Gewalt und Unterdrückung Schwächerer können eigene Unterlegenheitsgefühle kompensiert werden. Warum sollte man eine solche Verhaltensweise aufgeben? Sie funktioniert schließlich!

In meinem Beruf als Diplom Pädagoge wird dieser Personenkreis als "Die jungen Wilden" bezeichnet. Zwischen 17 und 25 Jahre alt, unzufrieden und gewaltbereit. Häufig liegt eine Lernbehinderung vor. Diese führt leider häufig zu multiplem Versagen in der Schule und in der Ausbildung, bzw. im Berufsleben. Meine spezielle Zielgruppe sind junge Menschen, die auf dem sogenannten 1. Arbeitsmarkt gescheitert sind, weil sie den Anforderungen nicht gerecht werden konnten. Sie haben aufgrund einer diagnostizierten Lernbehinderung einen Platz in einer "Werkstatt für behinderte Menschen" (WfbM) gefunden. Sie empfinden sich aber nicht als behindert und wollen sich von den Kollegen mit einer geistigen Behinderung abgrenzen. Häufig sind sie die einzigen in ihrem Freundeskreis, die keine "richtige Arbeit" haben und schämen sich für ihr "Versagen". Die entstehenden Minderwertigkeitsgefühle kompensieren sie mit dem Gefühl der Macht die sie empfinden, wenn sie andere Menschen unterdrücken und einschüchtern.  

Wenn ich mit diesen Menschen an ihren Aggressionproblemen arbeiten möchte, brauche ich einen Zugang. Der Klient braucht eine innere Bereitschaft, sich von den negativen Verhaltensweisen zu distanzieren, die bisher als äußerst positv empfunden wurden. Ich muss bei dem Klienten eine intrinsische Motivation wecken, also ein Antrieb, der von innen heraus kommt und nicht als äußerer Zwang empfunden wird.

Hier kommt Taijiquan ins Spiel. Die meisten Leute aus dieser Zielgruppe haben nur eine sehr vage Vorstellung von dem Begriff Taiji. Wenn er überhaupt bekannt ist, wird er als langsame Gymnastik empfunden und nicht im entferntesten mit Kampfkunst in Verbindung gebracht. Die oft körperlich überlegenen jungen Männer, für die Stärke und kämpferische Überlegenheit ein hohes Gut darstellt, können sich nicht vorstellen, dass sie einen Vorteil daraus ziehen, diese Kunst zu erlernen. Das ändert sich in dem Moment, in dem ich sie dazu auffordere, mich in einer Pushhandsposition wegzuschieben. Sind sie sich vorher noch ihrer körperlichen Überlegenheit sicher, scheitert das bisher so erfolgreiche Konzept der rohen Gewalt. Zum ersten Mal im Leben erfahren sie, dass ihr Gegenüber stehen bleiben kann, obwohl sie mit voller Kraft schieben. Tatsächlich spüren sie sogar, wie sie die Kontrolle über ihr eigenes Zentrum verlieren. Da ihre Wahrnehmung hauptsächlich auf muskuläre Kraft begrenzt ist, können sie sich das Geschehene nicht erklären. Das wollen sie auch können. Das Gefühl der Überlegenheit muss wieder hergestellt werden. Die intrinsische Motivation ist geboren! 

Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit. Damit in Zukunft auf Gewalt verzichtet werden kann, müssen drei Ziele erreicht werden. Zum einen soll die körperliche Fähigkeit vermittelt werden. Wai san he soll ausgebildet werden. Zum anderen soll diese Fähigkeit immer vorhanden sein und automatisiert ablaufen. Im dritten Ziel verbirgt sich der Schlüssel zur verbesserten Sozialkompetenz und somit zur Anwendbarkeit der anderen Fähigkeiten. Es muss ein Einfühlungsvermögen entwickelt werden.

Nachdem die Bereitschaft zu Lernen geweckt ist, kann die erste Phase des Trainings beginnen. Da die Fähigkeit zum rationalen Begreifen begrenzt ist, muss die Vermittlung der Fähigkeit über den Körper direkt geschehen. Beginnend mit dem Gespür in der Fußsohle wird die Wahrnehmung von Spannungszuständen im Körper erforscht, die entstehen, wenn das Gleichgewicht an seine Grenzen kommt. So wird der Klient abwechselnd auf die Zehenspitzen und auf die Fersen gestellt. Von der deutlichen Wahrnehmung der beiden Extrempositionen und deren spezifischen Spannungszuständen in den Fußsohlen, den Beinen und in Bauch, bzw. Rückenmuskulatur, wird die Körperwahrnehmung Schritt für Schritt verbessert. So soll die Position zwischen diesen beiden Extremposition gefunden werden, in der die maximale Entspannung erreicht wird. Auf die gleiche Weise wird die richtige Position bei einem Pendeln von rechts nach links Schritt für Schritt erforscht. 

Auf diesem Weg wird die Wahrnehmung von Spannungen innerhalb des Körpers verbessert  und durch Ausrichten nach dem wai san he wird zunehmend ein Zustand von innerer Geschlossenheit erreicht. 

Sobald die Fähigkeit, Druck über die entspannte Körperstruktur in den Boden abzuleiten in Grundzügen erreicht worden ist, kann die zweite Phase beginnen. In dieser Phase soll die paradoxe Reaktion, auf Druck mit Entspannung zu reagieren, im Rahmen einer klassischen Konditionierung als automatisierte Reaktion verinnerlicht werden. Bei jeder erfolgreichen Aktion, in der die Ableitung von Druck in den Boden am eigenen Körper erfahren wird, findet eine Verstärkung dieses Verhaltens statt. Ohne es wirklich zu verstehen, wird die neue Verhaltensweise als erfolgreich empfunden. Das Gefühl des Wohlbefindens und der Leichtigkeit, das der Klient dabei empfindet, wird ebenfalls verinnerlicht.

Das neu erlernte Verhaltensmuster wird mit der Zeit zur automatisierten Reaktion. Innerhalb eines ganzheitlichen pädagogischen Rahmenprogramms wird eine spezifische Reaktion auf einen spezifischen Stressreiz (tiefe Entspannung und innnere Geschlossenheit als Antwort auf eine gegen die eigene Mitte ausgerichteten Druck)  in eine generalisierte Reaktion auf einen unspezifischen Reiz umgewandelt. Das bedeutet, dass auf jeglichen Stressreiz mit Entspannung reagiert wird, da die angespannte Reaktion, die vor der Konditionierung noch das vorherrschende Verhalten dargestellt hat, mittlerweile mehrfach als negativ empfunden worden ist.

Jetzt kommen wir zum heiligen Gral der Sozialkompetenz, dem Einfühlungsvermögen. Unser Klientel dreht sich um sich selbst. Das Verhalten ähnelt in seiner Art dem frühkindlichen Egozentrismus. Die jungen Wilden können sich nur ganz schwer in andere Menschen hineinversetzen, wodurch es ihnen leider sehr leicht fällt, andere Menschen zu unterdrücken und sie in Angst zu versetzen. 

Taijiquan gibt uns eine wunderbare Übung an die Hand, um Einfühlungsvermögen zu entwickeln. Die Pushhands-Routinen. Angepasst an die kognitiven Kompetenzen unseres Klientels, lernen die jungen Wilden anhand der einhändigen Pushandsroutine, sich in seinen Partner einzufühlen, neben der eigenen Bewegung auch die Bewegung des Gegenübers wahrzunehmen. Sie beginnen, soziale Interaktion buchstäblich zu begreifen, lernen Grundsätze von Yin und Yang kennen, ohne die Worte je gehört zu haben. Ganz nebenbei erfahren sie ein besonderes Juwel am und im eigenen Körper. Das Nachgeben.                                                                                                                                                   

Bisher hatte das Wort "Nachgeben" eine ausschließlich negative Bedeutung. Es wurde mit Niederlage, Aufgeben, "der Loser sein" verbunden. Und war somit keine Option. Auf keinen Fall. Erwuchs doch das Bedürfnis, sich über andere zu stellen erst aus dem Gefühl der Unzulänglichkeit.

Im Zusammenhang mit Taijiquan bekommt das Wort Nachgeben im Sinne von Lü  eine andere Qualität, da es unter Beibehaltung von Peng ausgeübt wird. Es ändert seine Bedeutung um 180°. Aus dem Gefühl der Niederlage wird das Gefühl, Herr der Lage zu bleiben, im Gefühl eigener Stärke nachgeben zu können, ohne die Kontrolle zu verlieren. Jetzt kann das Nachgeben zu einer Option werden.

Das Gesamtziel ist erreicht. Die negative Verhaltensweise, auf Stress mit Gewalt zu reagieren, ist mehrfach als wirkungslos erfahren worden. Das in unserer  Ausgangssituation vorherrschende Verhaltensschema, Minderwertigkeitsgefühle durch Gewaltdemonstrationen zu kompensieren, ist durch eine neue Verhaltensweise ersetzt worden. Entspannung, innere Geschlossenheit und die Bereitschaft, unter Beibehaltung von Kontrolle und Integrität nachzugeben, haben sich als die erfolgreichere Strategie etabliert und sind zur automatisierten Standardreaktion geworden.

Eine positive Begleiterscheinung besteht darin, dass durch die neue Körperwahrnehmung und durch die Erfahrung entspannter Standfestigkeit auch ein verbessertes Selbstwertgfühl entsteht. Es ist also nicht mehr notwendig, zu kompensieren. Außerdem wird das Gegenüber zunehmend als Interaktionspartner wahrgenommen, in dem man sich zumindest teilweise hineinversetzen kann. Im Idealfall hat sich jetzt vielleicht der richtige Nährboden gebildet, um noch tiefer in die Taijiwelt einzusteigen und ganzheitlich davon zu profitieren.

Autor: Stefan Pätz (Dipl. Päd.) (im 2. Foto links)