(Über-) Leben durch, mit und für Taijiquan

Es brauchte nun doch etwas über vier Jahre, um diesen Bericht, einen Erlebnisbericht oder besser gesagt, meine Überlebenserfahrung nieder zu schreiben und öffentlich machen zu können.

Das Jahr 2019 war für mich ein taiji-intensives Jahr, noch intensiver vielleicht, als die anderen 17 Jahre zuvor. Inzwischen war Chen Taijiquan für mich zu einer, meinen Alltag begleitenden Lebensphilosophie und Lebensweise geworden. Zur täglichen Taijipraxis gehörte nun auch das vertiefende Studium des Dao De Jing und insbesondere der Kommentare zum DDJ unseres Taiji-Meisters, Jan Silberstorff. Um das Gesagte richtig einordnen zu können, muss ich an dieser Stelle unbedingt erwähnen, dass ich nicht hauptamtlich im Taiji unterwegs war, sondern als Lehrerin in einer staatlichen Schule meinem gesellschaftlichen Auftrag nachgegangen bin, meinen Aufgaben als Mutter und Ehefrau, als Tochter, Schwester usw..

Und dann kam der Tag, der mein bisheriges Leben gründlich veränderte, zunächst jedenfalls.

Meister Chen Yingjun gab wieder einen Lehrgang in Berlin und ich nahm „natürlich“ daran teil. An einem dieser Tage wurde mir beim Lehrgang plötzlich übel und ich konnte nicht weiter üben. Eine Taijifreundin fuhr mich nach Hause und auch am nächsten Tag war es mir nicht möglich, zum Lehrgang zu gehen. Ich musste mich übergeben, hatte starke Schmerzen im Unterbauch und unaufhörlichen Durchfall. Der Weg zum Arzt war unmöglich, statt dessen kam der notärztliche Bereitschaftsdienst zu mir nach Hause.

Diagnose: Magen-Darm-Virusinfektion, die gerade in Berlin gehäuft auftrat und durch einen sehr schmerzhaften Verlauf gekennzeichnet war.
Ärztlicher Rat: Liegen, Schlafen, Diät, die starken Schmerzen für ein paar Tage aushalten, dann wäre der „Spuk“ bald vorüber.

Nach 10 Tagen war der Spuk immer noch nicht vorüber. Ich spürte, dass meine Lebensenergie mehr und mehr abnahm. Ca. 18 Stunden Schlaf pro Tag wurde normal bzw. notwendig.

Hilfesuchend wandte ich mich an meinen Kampfkunstmeister und spirituellen Lehrer, Jan Silberstorff. Es waren zwei Sätze von ihm und sein Beistand, die mich bei allem Weiteren begleiteten. Plötzlich bekam ich eine Ahnung von dem, was geschehen war und wusste, was ich zu tun hatte. Ich wies mich in ein Krankenhaus ein, teilte den Ärzten meinen Verdacht mit, der bestätigt wurde und eine sofortige Operation nach sich zog.

Ich hatte einen dreifachen Blinddarmdurchbruch überlebt.

Was ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste, dass es über ein Jahr noch dauern sollte, um wirklich überlebt zu haben. Denn alle Organe waren inzwischen involviert, arbeiteten auf Sparflamme und mussten erst wieder „zum Leben“ aktiviert werden. Viele Tage lag ich mit Infusionen im Krankenhaus und fühlte mich zu schwach, um mich zu bewegen. Aber ich wusste: Ich muss mich bewegen!

Und jetzt fängt der eigentliche Erfahrungsbericht erst an, den ich unbedingt weitergeben muss.

Ich saß kurz auf der Bettkante und versuchte so etwas wie Cansigong, 3x Frontale Seidenübung mit dem rechten Arm, 3x mit dem linken Arm, um danach erschöpft wieder zu schlafen. Am nächsten Tag kam die Physiotherapeutin, um mich zum Gehen zu aktivieren. Im Schutze ihrer Gegenwart übte ich Taijiquan, 3 Schritte vorwärts, 3 Schritte rückwärts und dann wieder schlafen. Bei meiner Entlassung aus dem Krankenhaus war es mir wichtig, im dortigen Park eine 9er Form zu laufen. Wobei das Wort ‚Laufen‘ schon recht übertrieben wirkt. Mein häusliches Training begann mit 3 Minuten Stehender Säule, schön dicht an einer Wand und auch nach vorn gesichert.

Drei Monate später gab Meister Jan Silberstorff einen Lehrgang in Berlin, meinem Wohnort. Bis dahin war es mir nur möglich gewesen, mich in einem kleinen Radius außerhalb der Wohnung zu bewegen, um schnell wieder schlafen zu dürfen. Den Lehrgang sah ich als Herausforderung und Chance für weitere Genesungsfortschritte an. Ich beteiligte mich an den Übungen soweit meine Kraft reichte, um mich dann immer mal wieder im Umkleideraum schlafen zu legen. Die Zeiten des Übens wurden länger und die des Ausruhens in der Umkleide kürzer. Die erhoffte Chance auf Genesungsfortschritte zeigte sich größer als ich es je erahnen konnte. Es sei hier angemerkt, dass wir bei diesem Lehrgang auch Großmeister Chen Xiaowang’s Lungen-Qigong, das Yifeigong, übten.

Zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass das Corona-Virus bald eine Pandemie auslösen würde. Im Frühjahr 2020 gab es auch für uns in Deutschland einen Lockdown. Da ich sowieso die meiste Zeit des Tages zu Hause war und schlief, änderte sich für mich scheinbar nicht viel dadurch. Jedoch erlebte ich in meinem Umfeld eine Zeit großer Solidarität. Junge und gesunde Menschen boten kranken und alten Menschen ihre Hilfe an, damit diese beispielsweise nicht einkaufen gehen mussten. Es wurde von Balkonen aus musiziert und Vieles mehr. Das alles berührte mich sehr und ich wusste, was ich zu tun hatte.

Meine Genesungsfortschritte verliefen wellenartig und erlaubten mir, ca.15 Minuten lang Qigong oder Taijiquan zu üben, um dann wieder zu schlafen. Ich dachte an die vielen Menschen, die nicht diesen kostbaren Schatz kennen und demzufolge auch nicht praktizieren können. Also lud ich alle Hausbewohner (70 Mietparteien) ein, an festgelegten Tagen und Uhrzeiten von ihren Fenstern oder Balkonen aus, auf den großen Innenhof zu schauen, wo ich stand, um mit mir gemeinsam das ,Yifeigong’ 10 Minuten lang zu üben. Das taten wir während des gesamten Lockdowns regelmäßig. An manchen Tagen fühlte ich mich so schwach, dass ich ohne diese Aufgabe nicht auf den Hof gegangen wäre. Aber da warteten ja die Menschen auf mich. Und nach den 10 Minuten ging es auch mir wieder besser.

Randbemerkung: Viele Monate später traf ich im Park ein älteres Ehepaar aus unserem Wohnblock, die Yifeigong praktizierten. Sie erzählten mir, dass sie das seit unseren „Hofterminen“ täglich üben, weil es ihnen so gut tut. Auch jetzt fast vier Jahre später üben sie es noch immer täglich, wie sie mir bei unserem Fototermin auf dem Innenhof unseres Wohnblocks bestätigten und fügten schmunzelnd hinzu, sollten sie abends bemerken, dass sie es doch mal vergessen hatten, wird es noch vor dem Zubettgehen auf dem Balkon nachgeholt. 

Wieder zurück zu meiner Überlebenserfahrung:
Die WCTAG Taiji-Trainingsgruppe, die ich bis dahin leitete, wurde mir während meiner Genesungsphase zu einer großen Stütze. Zunächst trainierten sie ohne mich selbständig als Gruppe weiter. Dann kam ich allmählich wieder dazu. Ich wurde für den kurzen Weg von zu Hause mit dem Auto von einer Teilnehmerin, die als langjährige Krankenschwester immer mit einem prüfenden Blick meinen Zustand begutachtete, abgeholt. Beim Training durfte bzw. konnte ich zunächst ca. 20 Minuten lang auf einem Stuhl sitzend passiv teilnehmen, um dann wieder nach Hause gebracht zu werden. So steigerte sich meine Teilnahme von Woche zu Woche immer um einige Minuten.  

Nach ca. einem Jahr sagte eine Ärztin zu mir : „Dass Sie das überlebt haben, wäre m.E. ohne Ihre Qigong- und Taiji-Basis mit entsprechender Ernährung und Lebensweise kaum möglich gewesen.“

Schon Jahre zuvor sprach ich mich für den Wert der Komplementärmedizin aus. Das sollte auch in meinem Fall so sein. Ich bedurfte dringend der Schulmedizin und genauso dringend alternativer Heilungsmethoden. Eine essenzielle Hilfe erfuhr ich durch Manuka-Honig.  Als ich mich näher mit seinem Wirkungsprinzip beschäftigte, erkannte ich eine Übereinstimmung mit unserem Taijiquan. Wir Kampfkünstler greifen niemals an, aber wenn wir angegriffen werden, wissen wir diesen Angriff zu neutralisieren und entsprechend abzuwehren. Manuka-Honig wirkt nachgewiesenerweise antiseptisch. Wobei er sich selektiv antimikrobiell verhält. Krankmachende Keime werden neutralisiert, während gesunderhaltende Bakterien gestärkt werden. Im Gegensatz dazu tötet Antibiotikum die Keime ab und hierbei eben auch die nützlichen.
 

Der Titel meines Erfahrungsberichtes lautet: „(Über-) Leben durch, mit und für Taijiquan.“ Nun habe ich das „durch“ und das „mit“ erwähnt. Bleibt noch das „für“ zu klären.

Ich hatte mich irgendwann gefragt: „Was habe ich noch hier auf Erden zu tun, wenn mir diese Chance des Weiterlebens eingeräumt wurde?“

Nun ja, zunächst war es wohl wichtig, diese Erfahrung niederzuschreiben und öffentlich zu machen, um möglichst vielen Taijilern und noch nicht Taijilern mit diesem Beispiel zu zeigen, welch große Hilfe Qigong und Taijiquan in unserem Leben sein kann. Natürlich werde ich auch weiterhin als Lehrkraft dieses wertvolle Geschenk einsetzen. Taijiquan kann wirklich Vieles bewegen, doch zu guter Letzt darf ich noch eine essenzielle Erkenntnis, die mir zuteil wurde, weitergeben. Es gab während meiner Überlebenserfahrung einen Augenblick, in dem mir klar wurde, dass alles, ja wirklich alles geschieht, weil eine höhere Instanz es so vorsieht.

Als Christ heißt meine höhere Instanz GOTT. „Dein Wille geschehe“ waren die Worte aus dem christlichen ,Vaterunser Gebet’, die ich mich sagen hörte, als ich aufgehört hatte zu kämpfen und mich dem Schicksal hingab. Heute weiß ich, das war der Beginn meiner Heilung.

Ich beende diesen Bericht unter dem Eindruck einer Taijiquan-Trainingsreise zum Lehrgang mit Meister Jan Silberstorff in Lanckorona (Polen), in Dankbarkeit und Demut für alles, was mir das Leben bereitet.

24.02.2024    Barbara Christiane Wolf