Der beste Kampf ist kein Kampf

Die praktische Bedeutung des Taijiquan als innere Kampfkunst von Meister Jan Silberstorff

Einleitung

Geht es um den kämpferischen Aspekt im Taijiquan, so wird dieser Thematik zum Teil mit Scheu, zum Teil mit Ablehnung und zum Teil auch mit Verklärung der Materie begegnet. Den meisten Praktizierenden und auch Lehrenden, sind sie ehrlich zu sich selbst, fehlt zu diesem Aspekt des Taijiquan der wirkliche Bezug. Oft reicht auch das Level an Fähigkeiten nicht aus, die entsprechenden Inhalte und deren Begrifflichkeiten wirklich zu verstehen.

Bei den klassischen Texten gehen wir von einem hohen Level der Autoren aus - und es ist gerade das hohe Level und dessen Ausdrucksart, dass die Texte für die meisten unverständlich sein lässt. Schon der Begriff „innere Kampfkunst“, Neijiaquan, soweit verbreitet er schon ist, benötigt vielleicht zunächst einmal eine klare Begriffsanalyse.

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Kampfkunst

Wushu:

  • Wu - Kampf, Krieg
  • Shu - Technik, Kunst 
  • hier: Quan - Faust, als Synonym für Kampfkunst

Unter dem Begriff Kampfkunst verstehen wir ein System kämpferischer Fertigkeiten, die weder im sportlichen Sinne (Kampfsport), noch im reduziert kriegerischen Sinne (Kriegshandwerk) zu verstehen sind. Es geht um ein effektives System dieser Fertigkeiten, die insofern den Begriff Kunst verdienen, als sie zum einen über ein normales Vermögen der Anwendung hinausragen, zum anderen - gerade aber auch bereits dadurch - alle Ebenen des Seins ansprechen müssen. Ohne Letzteres würden sie ihrem hohen Anspruch nicht genügen und der Begriff „Kunst“ wäre nicht gerechtfertigt. Nicht jedoch finden wir im klassischen Sinne die Deutung von Kunst im Sinne von „künstlich“.

Eine Abwandlung eines vielleicht ursprünglichen Inhaltes zu einer Kunstform, wie etwa das so genannte „staatliche“ Wushu, Guojia Wushu, welche ihre eigentliche Bedeutung nur noch symbolisch zum Ausdruck bringt oder aber wie in anderen Fällen nur Zugeständnisse in diese Richtung macht, liegt daher nicht in der ursprünglichen Begriffsdeutung. Daher sollen diese modernen Entwicklungen hier keine Berücksichtigung finden.

Kurz: Kampfkunst stellt eins der ursprünglichen Konzepte von Wehrhaftigkeit im ganzheitlichsten und effektivsten Sinn dar, durch welches alle Bereiche des menschlichen Seins angesprochen und perfektioniert werden sollen. Vollkommenheit wäre das letztendliche Ziel.

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Der „innere“ Aspekt der Kampfkunst, Nei

Hier kann man schon gleich zu Beginn sagen, dass es, möchte man dem vorher definierten Anspruch gerecht werden, keine rein innere Kampfkunst geben kann. Es wäre nur ein Teil. Kampfkunst in ihrer Vollständigkeit ist weder nur innen noch nur außen. Eine vollständige Kampfkunst, und nur eine solche ist wirklich tauglich als Lebensweg, hat sowohl innere als auch äußere Aspekte.

Wir wollen jedoch bei dem Begriff der „inneren“ Kampfkunst bleiben. Zum einen, weil dieser innere Aspekt die Quelle alles Äußeren ist und, zumindest in der heutigen Zeit, wenig Berücksichtigung findet und vielfach fehlinterpretiert wird. Daher macht es Sinn, diesen Teil der Kampfkunst hervorzuheben. Das Innere ist nicht so augenscheinlich. Es ist subtil und nicht schnell fassbar oder erlernbar. Das „Innere“ ist der Quell, der Geist, aus dem alles Weitere geformt und zu einer Energie wird, die dann durch den Körper äußerlich (Wai) ausgedrückt wird.

Zum anderen, weil Taijiquan als Kampfkunst auf die meisten einen ausschließlich weichen und sanften Eindruck macht - „mit Weichheit Härte überwinden“, Yi Rou Ke Gang - und daher schon als „innere“ Kunst gilt. In dieser inneren Entwicklung jedoch liegt bereits der Ansatz zu „äußerlicher“ (hier: entgegengesetzter) Fähigkeit, wenn wir verstehen, dass aus größter Weichheit Härte entsteht. Oder in den Worten der klassischen Texte: wie „(eine) Eisen (Nadel) mit (in) Baumwolle umwickelt (verstecken)“, Mian Li Cang Zhen, als auch „Weichheit mit Härte (Festigkeit) mischen“, Yi Rou Ji Gang.

Fakt ist, dass sich Taijiquan vornehmlich um die Entwicklung so genannter innerer Energien kümmert, die dann in der Kampfkunst als Kraft nach außen wirken. Dadurch liegt eine starke Betonung auf der Formulierung, dass diese innere Kraft anstelle von Muskelkraft gesetzt würde und dass der Kraft des Gegners keine eigene Kraft entgegengesetzt, sondern nachgegeben wird - „mit Weichheit Härte überwinden“, Yi Rou Ke Gang. Was das Ersetzen von Muskelkraft angeht, ist dies so gesehen nicht ganz richtig. Denn wie sagt mein Großmeister Chen Xiaowang so schön: „Nur mit Qi kommt niemand morgens aus dem Bett.“

Damit ist gemeint, dass jede körperliche Bewegung in Zusammenhang mit Muskelbewegung steht. Es geht daher vielmehr um eine bis ins Feinste harmonisierte Bewegung innerer und äußerer Kräfte, die so subtil werden können, dass die eigentliche Bewegung nicht mehr auffällt. Und so scheint es, als würde Muskelkraft ersetzt werden. Besser hieße es: Durch feinstoffliches Bewegen wird der nötige Muskelaufwand für die erwünschte Leistung minimiert.

Daraus entsteht unter Berücksichtigung weiterer Aspekte die Fähigkeit, „eine Kraft von 1000 Pfund mit Geschicklichkeit (zu) überwinden“, Yi Qiao Po Qian Jin. Das Ziel ist also wie überall: größtmögliche Leistung bei minimalem Aufwand.

So spielen Innen und Außen zusammen und werden von Level zu Level immer feinstofflicher und scheinbar „unsichtbarer“, sprich: kleiner. Gehen wir noch einen Schritt weiter bis in die Mystik des Taijiquan, so werden die Bewegungen so klein und fein, dass sie quasi nicht mehr vorkommen. Dazu heißt es in den Klassikern: „Die großen (groben) Bewegungen sind nicht besser als die kleinen. Die kleinen Bewegungen sind nicht besser als die Nicht-Bewegung. Aus der Nicht-Bewegung entsteht wahre Bewegung.“

Neutral betrachtet gilt daher wohl folgender Satz als Wahrheit: „Aus dem Inneren geführt, im Äußeren gestaltet, gibt es kein Innen und kein Außen.“ Dies ist kein klassischer Satz, sondern ich habe ihn mir gerade ausgedacht. Jedoch finden wir hierin bereits die zwei essentiellen Säulen des Taijiquan: die inneren drei Harmonien, Nei San He, und die äußeren drei Harmonien, Wai San He. In Perfektion wirken beide untrennbar zusammen und sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Taijiquan ist die Kampfkunst, die das Prinzip von Yin und Yang als höchstes Ziel hat. Dies ist eine Harmonisierung von hart und weich, oben und unten, links und rechts, und: innen und außen!

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Die drei inneren und äußeren Harmonien

In uns muss geistige Einheit wirken: Xin Yu Yi He - Herz mit Aufmerksamkeit verbinden. Zwiespältigkeit ist der größte Gegner der Entschlossenheit. Nur reine, aus innerer Wahrheit entstandene Entschlossenheit kann eine hundertprozentige und in sich geschlossen einsgerichtete Energie erzeugen, die sich dann mit den Kräften des Körpers verbindet: Qi Yu Li He - innere mit äußerer Kraft verbinden. Und nur dies kann den Körper in einem einzigen Zusammenhang als Ganzes bewegen: Jin Yu Gu He - Sehnen mit Knochen verbinden. Geistige Einheit entwickelt energetische Gesamtheit. Diese wiederum ermöglicht dem Körper in seiner optimalen Form zu agieren. Dies bedeutet, die inneren drei Harmonien, Nei San He, erreicht zu haben.

Dazu muss der Körper im Äußeren geschlossen sein. Das heißt alle Bereiche des physischen Körpers müssen so zueinander in eine Struktur gebracht sein, dass alles optimal übertragen werden kann: Schultern mit Hüften verbinden - Jian Yu Kua He, Ellenbogen mit Knien verbinden - Zhou Yu Xi He und Hände mit Füßen verbinden - Shou He Zu He. Dies bedeutet, die äußeren drei Harmonien, Wai San He, erreicht zu haben. Klarheit in Körper und Geist bedeutet, dass es keine Störgefühle jeglicher Art gibt. Hierzu gehören auch die Emotionen wie Angst, Wut, Übermut etc. Aber auch keine körperlichen Unzulänglichkeiten, die eine Kraftübertragung im physischen Sinne erschweren würden. Diese im Volksmund als „innere und äußere Blockaden“ bezeichneten Missstände würden die eigene Aktion in vielen Formen abschwächen und ineffektiv gestalten.

Es ist ersichtlich, dass in dieser Beschreibung das Gesamtwesen von „innen“ und „außen“ bereits in einem Bereich liegt, der gemeinhin als „innerlich“ bezeichnet wird. Oder anders: Vieles, was ich als „äußerlich“ beschreibe, liegt für den Laien bereits im Innern. Dies ist in der Überlieferung der klassischen Texte bereits so angelegt, in denen der Begriff einer „inneren“ Kampfkunst, wie er in der heutigen Zeit verwandt wird, nicht erscheint. Insofern kann es nicht zufriedenstellend sein, eine Kampfkunst, erhebt sie denn den Anspruch auf Vollständigkeit, nur als das eine oder das andere zu klassifizieren.

Eine Einteilung in innere Energie versus äußerer Muskelkraft wäre zu simpel und ineffektiv. Andererseits: Wenngleich auch eine Vielzahl der fundamentalen Aussagen des als „äußerlich“ geltenden Shaolinquan mit denen des Taijiquan identisch ist und dieses System ebenfalls über einen hohen Qigong-Anteil verfügt, so ist doch der - zumindest heutige - Übungsweg beider Systeme augenscheinlich sehr unterschiedlich.

Wir wollen es daher bei den Definitionen von „innerer“ und „äußerer“ Schule belassen, wenngleich ich beiden Systemen zumuten möchte, dass sie in ihrer Perfektion zu einer einheitlichen Ganzkörperbewegung kommen, die sich von innen nach außen, allerdings ohne zeitlichen Verlauf, vollzieht, daher ohne Unterschied und in dieser Reihenfolge gleichzeitig, untrennbar voneinander und somit unmittelbar, so dass es in dem Sinne „kein Innen und Außen“ mehr gibt. Doch bevor ich nun Gefahr laufe, die Dinge komplizierter zu machen, möchte ich versuchen, die grundlegenden Konzepte des Taijiquan für die kämpferische Auseinandersetzung auf ein allgemein gültiges Maß herunterzubrechen und verständlich zu beschreiben. Dabei kann lediglich auf das Fundament der Materie eingegangen werden.

Ich werde hierzu die klassischen Fachbegriffe in Klammern beifügen, um so einen Bezug zu den sehr viel tiefgreifenderen klassischen Bedeutungen zu erleichtern. Den Zugang so solchen klassischen Texten setze ich hier jedoch voraus und werde diese Begriffe im Folgenden nicht weiter beschreiben. Für den Laien ist es meine Hoffnung, dass der Artikel in sich bereits genug Informationen liefert, dass er es verzeiht, diese Brücken nicht schlagen zu können.

Um den Rahmen dieses Artikels weiterhin nicht zu sprengen, handelt es sich jetzt nur um Beschreibungen einer wirklichen körperlichen Auseinandersetzung. Wir gehen davon aus, dass alle diplomatischen Verhandlungen bereits gescheitert sind oder es nie einen Raum für solche gegeben hat. Ebenfalls ist kein Fluchtweg gegeben. So wollen wir uns jetzt ausschließlich dem Moment widmen, den niemand erleben möchte, aber den so viele in ihrem Kampfkunsttraining verherrlichen: den Ernstfall.

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Kämpfen aus der inneren Leere

Davon ausgehend, dass eine letal bedrohte Person unter extremem Stress steht, ist es erwiesen, dass sich der ihr zur Verfügung stehende Bewegungsspielraum im Vergleich zu normalen Umständen erheblich verringert. Knie werden weich, Lähmungserscheinungen treten auf, einfachste Koordinationen sind plötzlich nicht mehr möglich. Dies bedeutet, dass der größte Teil der in normalen Kampfsportkursen angebotenen Techniken von vornherein wegfällt, weil diese zu kompliziert sind.

Ich erinnere mich an diverse Vorführungen, bei denen stadtbekannte Meister beispielsweise Technikvariationen auf einem Bein vorführen wollten und durch das Lampenfieber bereits ins Straucheln kamen. Diese Menschen haben mein vollstes Verständnis, doch frage ich mich, wenn es in einem sozial friedlichen Zusammenhang durch Aufregung schon nicht mehr richtig funktioniert, wie dann erst bei dem größten Stress, der möglich ist, der Lebensgefahr?

Die Bewegungen müssen daher einfach und unmittelbar sein. Da mein Verstand außer Kraft gesetzt sein wird, spielt die Natürlichkeit meiner Bewegung eine große Rolle. Und schließlich und endlich funktioniert nichts ohne Balance. Wir fassen also als grundlegend wichtig folgende Eigenschaften zusammen:

  • Natürlichkeit - Ziran
  • Einfachheit – Chun
  • Gleichgewicht - Zhong

Einzig im Bereich dieser drei Aspekte definiert sich unsere Technik: Unser Geist muss ruhig und ausgeglichen sein. Ein Witz, möchte man meinen. Wie soll ich in Todesangst ruhig bleiben können? Die Antwort zumindest ist ganz einfach: Indem ich gar nicht da bin. Damit ist gemeint, ich befinde mich in Abgeschiedenheit. Meine Persönlichkeit, mein Ego, mein Verstand - all dies ist nicht beteiligt. Ich muss durch Training in mir eine Leere schaffen können. Durch diese Leere ist es mir möglich, eine vertrauensvolle Verbindung zu der mir innewohnenden Natur aufzubauen beziehungsweise wieder zu entdecken. Es kämpft, nicht ich kämpfe. „Der beste Kampf ist der Kampf, den ich nicht geführt habe“ – dieser klassische Satz hat eine sehr pragmatische Bedeutung.

Der Fluchtweg ist ausgeschlossen, mir bleibt nichts anderes mehr übrig, ich muss mich der Situation stellen. Und doch, am besten werde ich „kämpfen“, wenn ich nicht kämpfe. Also wenn „Ich“ nicht kämpfe. Ich muss vollständig in der Lage sein, aus mir herauszutreten. Ich, mein Verstand und mein Ego, sind zu langsam, zu viele Fehlentscheidungen, Reaktionen und Emotionen.

Ich muss das Wuji hinter dem Taiji erkennen. Meine Handlungen sind im Taiji, doch die Quelle ist im Wuji. So ist es in der tatsächlichen Situation, dass man den Kampf tatsächlich nicht bewusst miterlebt. Erst hinterher spielt er sich wie ein Film quasi rückwärts noch einmal ab. Wie anders, ohne eigene Abgeschiedenheit, könnte ich Natürlichkeit erreichen? Mit mir als konditioniertem Wesen wird dies kaum möglich sein. Das bedeutet „Gelassenheit“: von sich selbst zu lassen, als die höchste Form des „Fang Song“ – der „Entspannung“ und des „Loslassens“.

Dadurch ist es mir möglich einen klaren Geist zu haben. Dieser muss eins und zielgerichtet sein: Ein klares Konzept ist nötig, das mich nicht in Abwägungen zurückzwingt. „Der Gegner bewegt sich nicht, ich bewege mich nicht, der Gegner bewegt sich, ich bin schon da“ (Bi Bu Dong, Wo Bu Dong. Bi Yi Dong, Wo Xian Dong), heißt ein klassischer Satz. Ich bewege mich nicht als erster. In dem Moment aber, da der andere zum Angriff ansetzt, beende ich die Angelegenheit in einer hundertprozentigen Konsequenz. Dazu müssen mir einige wesentliche Faktoren über das Kämpfen klar sein:

  • Nicht die Faust greift mich an, sondern der, der sie führt.
  • Nicht der Schmerz, den der andere erleidet, oder ein eventuelles Einsehen des Gegners sind eine Garantie meiner Rettung, sondern das vorübergehende Ausschalten des Gegners.

Diese zwei Punkte haben eine simple Konsequenz: Ich verteidige mich nicht, indem ich die Schläge des Gegners abwehre, sondern indem ich den Gegner abwehre. Das heißt, ich muss ihn selbst schlagen. Und dies so konsequent, dass ich mir sicher sein kann, nicht in einer nächsten Attacke doch noch zu unterliegen. Es ist die konsequente Handlung, die eine Opferrolle nicht zulässt.

Dies mag für den Laien gewaltsam klingen, doch jeder, der solche Situationen kennt, weiß, wie schwierig es ist, einen Ernstfall überhaupt zu überstehen. Und nicht vergessen: In beschriebener Erklärung befinden wir uns bereits inmitten körperlicher Gewaltanwendung, nicht davor!

Wieder scheitern die meisten so genannten Kampfsportler, weil sie sich ihrer Technik, nicht aber der tatsächlichen Situation bewusst sind.

Dies führt zu einer weiteren fundamentalen Bedeutung des Satzes „Der beste Kampf ist der nicht geführte Kampf“: Meine Aktion muss so unmittelbar und direkt sein, dass erst gar kein Kampf entsteht. Jeder „Kampf“ bezeichnet eine zeitliche Abfolge von Ereignissen schlagender Auseinandersetzung, quasi eine Addition von Fehlern, sprich missglückten Aktionen und Gegenaktionen. Denn sonst wäre der Kampf bereits beendet. Wird aber einem Angriff im Ansatz direkt mit einer einzigen, aber finalen Aktion entgegengetreten, so spricht man höchstens von einem Niederschlag, nicht aber von einem Kampf. Denn es gab keinen zeitlichen Verlauf in dem Sinne.

Rufen wir uns all die legendären Kämpfe der großen Taiji-Meister wie Yang Luchan oder Chen Fake ins Gedächtnis. Man spricht hier nicht von großen Kämpfen wie bei einem Ali gegen Frazier oder Foreman. Nein, man spricht lediglich von einem Angriff und dass der Aggressor im selben Moment besiegt wurde. So gesehen gibt es also keinen zeitlichen Verlauf zwischen Angriff und Verteidigung, es passiert quasi im selben Moment, wobei wie erwähnt der Angriff vorausgeht, die Verteidigung aber als erste eintrifft.

Erreichen wir dies in Perfektion, wäre es durchaus möglich, bereits so früh anzusetzen, dass der Gegner sich besinnt, bevor er wirklich begonnen hat, und insofern tatsächlich keine körperliche Auseinandersetzung in irgendwelcher Form stattfindet. Er wäre schon in der geistigen Vorbereitung durch entsprechende Präsenz gekontert worden. Ein berühmtes Beispiel hierfür sind die beiden Samurai, die sich bewegungslos gegenüberstehen, bis einer von beiden aufgibt. Solches Können führt zu einer Ausstrahlung von Selbstsicherheit, die mich als „zufälliges“ Opfer in der Regel nicht mehr in Frage kommen lässt.

Doch Vorsicht: Dies bedarf eines hohen Könnens und nicht einfach nur pazifistischer Absichten. Denn selbst nach dem buddhistischen Prinzip der vollkommenen Leere, die einem Angriff keine Basis liefert: Diese muss echt und nicht einfach nur gewollt oder erhofft sein. Wir können keinen Frieden nur durch „Wollen“ schaffen, solange tief in uns drinnen doch noch so viele Aggressionen und Ängste verborgen liegen. Denn auch diese wirken bewusst oder unbewusst nach außen. Und genau dies ist bereits genug Ansatzpunkt für einen Angriff. Kurz: Wir können nur dann dem Gegner keinen Ansatzpunkt für seinen Angriff bieten, wenn wir wirklich durch und durch keinen haben. Und das ist schwierig.

Als Analogie mag der Spatz dienen, der der Legende nach nicht von Yang Luchans Schulter fliegen konnte, weil dieser ihm keine Plattform zum Starten gegeben hat. Er konnte jeder Bewegung des Vogels durch Nachgeben zuvorkommen. Nun muss dies beim Menschen jedoch genauso auch auf mentaler Ebene funktionieren, so dass der Aggressor hier ebenfalls nirgendwo eine Plattform zum Bewegen findet. Weder körperlich, noch geistig.

Zur Absicherung beider Parteien gibt es noch ein weiteres Sprichwort im Taijiquan: „Der Gegner bewegt sich langsam, ich bewege mich langsam, der Gegner bewegt sich schnell, ich bewege mich schnell.“ Dies bedeutet - innere Abgeschiedenheit und dadurch entstandene Natürlichkeit vorausgesetzt –, dass mein inneres Selbst genau in der Art agiert, wie es konfrontiert wird: Ist der Angriff harmlos, ist es meine Initiative ebenfalls. Ist er sehr ernsthaft und konsequent, bin ich es genauso. Hierdurch vermeide ich über- oder unterzu(re-)agieren. Ich bin quasi der Schatten des Gegners.

Dies muss, wie gesagt, in Natürlichkeit stattfinden, für bewusste Entscheidungen fehlen hier Raum und Zeit. Um diese Einfachheit und Unmittelbarkeit in der entsprechenden Anpassungsfähigkeit zu erreichen, muss ich ziel- das heißt im Taijiquan zentrumsorientiert sein. Durch mein eigenes Gleichgewicht und die daraus entwickelte Körperstruktur gelingt mir, mit immer besserem Taijiquan, eine Ganzkörperbewegung, die von außen kaum mehr zu brechen ist. Dies ermöglicht mir alle meine Energien durch den gesamten Körper auszudrücken. Die Orientierung auf das Zentrum des Gegenübers sichert mir, ihn in ausschließlich fundamentalen Bereichen zu treffen. Dort, wo der Treffer zu seiner Kampfunfähigkeit führt.

Hierzu passt interessanterweise ein Satz aus dem berühmten Brockhaus über dem Begriff „Wushu“:

„Wushu setzt innere Ruhe, Konzentration der Bewegungen und Haltungen sowie die Verinnerlichung aller Aktionen auf einen Brennpunkt voraus.“
(c) Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2004

Weiterhin kann ich durch diese Zentrumsorientierung mit steigendem Level die Aktion des Gegners immer besser wahrnehmen bis hin zu dem Punkt, wo sie nicht nur noch nicht stattgefunden hat, sondern der Gegner selbst nicht einmal weiß, das er selbige gleich auslösen wird. Sprich der Moment kurz nach dem Auslösen, aber kurz bevor er selbst sie zur Kenntnis nimmt. Daher sagt Chen Wangting, Begründer des Chen- Stils: „Niemand kennt mich, wobei ich alle kenne.“ Denn ist es mir möglich, das Zentrum des anderen zu kontrollieren, kann ich alle seine Bewegungen begleiten und übernehmen, was bedeutet, dass sie mich nicht mehr erreichen können.

Wie bereits in dem Satz von Chen Wangting ausgedrückt, ist es im Gegenzug dem Gegner durch unsere Kontrolle nicht möglich, seinerseits unser Zentrum zu kontrollieren. Das heißt, er ist nicht im Stande, um uns zu wissen, sprich, unsere Aktion ist für ihn immer eine Überraschung. Und dies unabhängig davon, ob die Bewegung schnell, langsam, verdeckt oder offensichtlich ist. Ganz nach dem Satz von Chen Changxing, dem Lehrer von Yang Luchan: „Schlage so, dass deine Hand nicht gesehen wird. Wird sie dann gesehen, kann nichts mehr dagegen unternommen werden.“ Hier sind nicht Geschicklichkeit, Schnelligkeit oder Täuschungsmanöver gemeint. Es geht nur um das Prinzip und die daraus resultierende Zentrumskontrolle.

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Vom Taiji zum Wuji

Dies geschieht immer im Rahmen des „Fernhaltens“ (Peng), des „Nachgebens“ (Lü), des Drückens (Ji), des „Stoßens“ (An), des „Nach-unten-Ziehens“ (Cai), des „Trennens“ (Lie), des „Ellenbogens“ (Zhou) und der „Schulter“ (Kao) sowie innerhalb der fünf Bewegungsrichtungen und ihrer Elemente (Wu Xing). Doch auch diese acht (im Chenstil 13: „von unten nach oben Schlagen“ (Teng), „von oben nach unten Ausweichen“ (Shan), „Winden“, „Zerbrechen“ (Zhe), „leer Werden“ (Kong) und „im Prinzip Bleiben“ (Huo)) Grundtechniken und fünf Schrittrichtungen entstehen aus der Natur der Situation, nicht aus meinem Willen. Da mein Wille so gänzlich abhanden gekommen ist, brauchen wir uns auch ethisch keine Sorgen zu machen. Wo kein Wollen ist, da ist auch kein Leid. Die Technik des Taijiquan kann in der bisher beschriebenen Weise niemals negativ verwandt werden, denn da ist kein „Ich“, dass dies tun könnte.

Folglich ist da auch nichts, das etwas will oder eine Eigeninitiative hätte (Wuwei). Daher das Bild des Wassers, das nach Laozi „sich allem anpasst und doch selbst nichts will“ (Daodejing, Vers 8). Auch ist die „Brücke“ des Angriffs für das beschriebene Konzept ausschlaggebend und es kann daher nur zur Verteidigung gebraucht werden.

In der beschriebenen „Selbstaufgabe“ liegt auch die enorme spirituelle Entwicklungsmöglichkeit durch das Taijiquan. Anhand der Überwindung des „Ichs“ als notwendiger Folge einer Vertiefung in das Taiji-Prinzip gelange ich zur Überwindung der zeitlichen Begrenzung: von der Unbeständigkeit zum Beständigen, von der Wandlung zur Einheit, sprich zur Ewigkeit. Kurz: von der Verwirrung zum Taiji und vom Taiji zum Wuji.

Die Form innerhalb des Taijiquan muss daher so trainiert werden, dass das ihr inne wohnende Prinzip in der Kampfanwendung ersichtlich wird. Diese Technik muss innerhalb der Form in eine innere und äußere Struktur gebracht werden, die sich jeglicher Situation anpassen und von außen nicht mehr überwunden werden kann. Sie sollte meditativ sein, so dass die Aufmerksamkeit tief ins Innere vordringen kann.

Mit der dadurch entstehenden Freiheit von mentalen und physischen Blockaden sollte durch vertiefte Praxis ein Zustand von Natürlichkeit geschaffen werden, der ein in jeder Situation richtiges intuitives Wissen und Handeln freilegt. Es müssen demnach zwei Dinge entwickelt werden, die innerhalb des Trainingsweges von Taijiquan nicht voneinander zu trennen sind: Es muss geistig ein Zustand ursprünglicher Natürlichkeit freigelegt werden, der unabhängig von unserer Persönlichkeit und Sozialisation agieren kann. Und es muss ein Körper gebildet werden, der dieser inneren Natur gestattet sich hundertprozentig auszudrücken.

Es entsteht Weisheit durch ganzheitliches Verstehen. Diese Weisheit kennt keinen Unterschied in ihrer Art und kann daher geistig und körperlich ausgedrückt werden. Natürlich ist dies nur ein kurzer Überblick über die tatsächliche Anwendbarkeit des Taijiquan. Diese Konzepte zu meistern liegt selbstverständlich in korrektem, ernsthaftem und ausdauerndem Training.

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